Camerata VocaLeo interpretiert beeindruckend das brüchige Wien vor 120 Jahren.

Leonberg - Die Natur explodiert in Farben und Formen, Blütenduft liegt in der Luft. Und die ist natürlich am schönsten - in Wien: „Im Prater blüh’n wieder die Bäume...“ Deshalb passt die literarisch-musikalische Soiree des Kammerchors „Camerata VocaLeo“ der Chorgemeinschaft Eltingen-Leonberg unter Leitung von Wilhelm Bäuml im Spitalhof genau in die Jahreszeit.

 

Aber Bäuml, einst Musikpädagoge am Johannes-Kepler-Gymnasium, hat mit seinem Projektchor einen höheren Anspruch als nur Walzerseligkeit: Ihn interessiert die Ambivalenz, die Brüchigkeit, auch das Morbide jener Epoche. Nur 14 Jahre später beginnt in Sarajevo die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts: Der Erste Weltkrieg.

So spannt er den Bogen von Johannes Brahms, dem Vollender der Wiener Klassik, über die „Zweite Wiener Schule“ um Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Alban Berg bis zur leichten Muse mit Johann Strauß, Fritz Kreisler, Franz Lehar und weinseligen Heurigen-Liedern.

Wien am Ende des 19. Jahrhunderts

Michael Gans führt als Conferencier kenntnisreich und „weanerisch“ charmant durch den Abend. Er nennt die Stimmung in Wien am Ende des 19. Jahrhunderts „resignativ“: Bürgerliche Revolution gescheitert, Schlacht bei Königgrätz 1866 verloren, Börsenkrach und dann noch die deutsche Reichsgründung...

Die „Zigeunerlieder“ von Johannes Brahms interpretiert der Chor dynamisch, aber auch innig, einfühlsam begleitet von der Pianistin Kyoko Sawada. Berthold Masing interpretiert auf der Violine die Alt-Wiener Tanzweise „Schön Rosmarin“ von Fritz Kreisler heiter und hintergründig.

Die Epoche um 1900 in Wien gilt als musikgeschichtlicher Paradigmenwechsel durch den Übergang von der Tonalität zur Atonalität. „Zu meiner Musik muss man Zeit haben“, meinte einmal Arnold Schönberg - seine „6 kleine Klavierstücke op. 19“ interpretiert Kyoko Sawada lyrisch-gesanglich. Die poetischen Lieder von Alban Berg, einem Schüler von Arnold Schönberg, „Im Zimmer“ und „Die Nachtigall“ berühren durch die hohe Intensität des Gesangs. Wilhelm Bäuml dirigiert mit Herzblut, holt alles an technischen Finessen, Farbigkeit und Emotionalität aus seinem Chor raus.

In der Pause wird das Publikum mit echten Wiener Schmankerln verwöhnt: Von der Donauwelle über Heurigenbrot mit Braten, bis Liptauer auf Brot. Dazu Sekt aus Wien, Rotwein aus dem Burgenland oder alkoholfreier Sekt aus der Sommerbirne.

Und jetzt bitte alle!

Die zweite Hälfte des Abends ist der leichteren Muse gewidmet: Operettenmelodien und Heurigen-Lieder zum Mitsingen.

Die Chormitglieder und der Dirigent präsentieren sich jetzt in der Kleidung des Großbürgertums um 1900. Auch Moderator Gans, der immer „weanerischer“ wird, tritt in Frack, Kummerbund und Fliege an, was das Publikum im ausverkauften Spitalhof anerkennend würdigt.

In Wien, erzählt er, habe man damals viel Zeit gehabt, um im Kaffeehaus zu sitzen oder beim „Heurigen“. Aber: Es war ein Tanz auf dem Vulkan, denn der österreichische Vielvölkerstaat zeigte schon Risse. Die leichte Muse sollte verdrängen, wie brüchig die Gesellschaft geworden war.

Beim Einzugsmarsch aus dem „Zigeunerbaron“ von Johann Strauß feiert die Gesellschaft ihre heimkehrenden Helden. Aber es wanken armselige Gestalten auf die Bühne, der klägliche Rest einer einst stolzen Armee: Invalide, einarmig, mit blutgetränktem Verband, Krücke. Orden des Vaterlands werden ihnen umgehängt.

In den Instrumentalsätzen von Fritz Kreisler „Kleiner Wiener Marsch“ und „Schön Rosmarin“ promeniert die Hautevolee über die Bühne, begrüßt sich, tauscht Neuigkeiten aus.

Dann ist Ball-Stimmung angesagt: Augenmasken auf - und fertig ist das kapriziöse Flair eines Maskenballs. Die Chormitglieder bewegen sich zur „Ballsirenen-Walzerfolge“ im Reigen, schweben walzerselig über die Bühne.

Als Höhe- und Schlusspunkt werden Tische und Bänke einer Heurigen-Schenke aufgestellt: Der Busch’n ist ausg’steckt!

Mit echt Wiener Schmäh kündigt Michael Gans das carpe diem-Lied „Es wird a Wein sein und mir wer’n nimmer sein“ an - und das Publikum darf mit einstimmen.

Ein zauberhafter Abend, tosender Applaus - als Zugabe gibt’s noch mal „Im Prater blüh’n wieder die Bäume...“ . Passend zum Frühling. Kurze Zeit später haben die Bäume lange Zeit nicht mehr geblüht: Es war Krieg.