Der Pädagoge Axel Conrad sagt, Eltern müssten Leuchttürme sein und ihrem Nachwuchs klare Signale geben. Dieser wiederum müsse auch „Nein“ sagen dürfen. Conrads Kurs „Beziehung statt Erziehung“ soll Müttern und Vätern helfen, gelassener zu erziehen.

Waiblingen - Mit mehr Gelassenheit erziehen – das ist das Motto von Axel Conrad. Der Pädagoge und systemische Therapeut aus Aspach bietet in der Familienbildungsstätte Waiblingen einen zweiteiligen Kurs mit dem Titel „Beziehung statt Erziehung“ an. Er soll Eltern den Anstoß geben, neue Wege auszuprobieren.

 
Herr Conrad, was sind die Daueraufreger zwischen Eltern und Kindern?
Es sind eigentlich immer die gleichen Themen, die Konflikte auslösen: Zimmer aufräumen, Tisch abräumen, Zähneputzen, Hausaufgaben, ins Bett gehen. Später sind es dann Alkohol, Zigaretten und Computerspiele.
An wen richtet sich Ihr Seminar?
An alle Eltern, die erfahren wollen, wo ihre Kompetenzen liegen und die der Auffassung sind, dass Konflikte sein dürfen. Im Seminar geht es darum, Anstöße zu geben, mal etwas Anderes auszuprobieren. Das Ziel ist es, aus alten Spiralen herauszukommen, zu erfahren, wie können mein Kind und ich uns gemeinsam weiterentwickeln?
Sie sprechen von einem „inneren Drehbuch“. Sind damit Verhaltensmuster gemeint?
Ja, dieses innere Drehbuch und seine Bilder muss man sich bewusst machen. Wenn mir klar ist, was darin steht, habe ich schon einen ersten Schritt der Veränderung gemacht. Das ist auch die Idee der im Seminar verwendeten „Lernplattform Familie“: Sie schildert in kurzen Filmen Szenen aus dem Alltag, zum Beispiel den Sohn, der eine Markenjeans haben will, oder die Tochter, die Stress mit ihrer Freundin hat. Die Filme zeigen, wie andere Familien solche Konflikte lösen und wie Eltern reagieren. So entstehen neue innere Bilder. Wir machen auch Rollenspiele im Seminar.
Kann man sein inneres Drehbuch tatsächlich einfach so umschreiben?
Das muss man sich wie ein Autobahn im Gehirn vorstellen. Wenn ich die gewohnte Autobahn verlasse und stattdessen einen schmalen Feldweg nehme, geht das erst mal langsamer und ist schwieriger. Ich muss diesen Feldweg immer wieder fahren. Je öfter ich schmale Wege benutze, desto ausgefahrener werden sie. Genauso ist es mit neuen Erfahrungen: wenn sie sich wiederholen, verändern sie die Haltung.
Sie propagieren „Beziehung statt Erziehung“. Was bedeutet das?
In der Pädagogik habe ich oft das Gefühl, wir stecken in einer Sackgasse. Wir glauben, Kinder müssen gehorchen und beziehen sie viel zu selten ein, weil wir Erwachsenen denken, wir wissen die Lösung. Es geht darum, die Kinder zu stärken. Das hat nichts mit Laissez-faire zu tun. Wenn Kinder sich anerkannt und wertvoll fühlen und selbst entscheiden können, tun sie dies erfahrungsgemäß sehr oft im Sinne ihrer Eltern.
Dazu braucht man aber viel Gelassenheit, man will ja das Beste für sein Kind. . .
Ja, es ist nicht leicht, das auszuhalten. Aber Kinder müssen einen Sinn für Eigenverantwortung entwickeln. Zu mir kam eine Mutter, deren Kind nicht die Zähne putzen wollte. Sie hatte den Zahnarzt im Nacken und musste ihr Kind quasi jedes Mal in den Schwitzkasten nehmen. Ich habe sie gefragt, was ihr lieber ist – ein Loch im Zahn oder ein Loch in der Seele.
Und was raten Sie da?
Man sollte aus der Konfrontation heraus. Die Mutter kann dem Kind sagen: Mir ist es wichtig, dass du die Zähne putzt. Wie können wir erreichen, dass du es machst? Ein anderes Beispiel: Als unsere Tochter in die Schule kam, haben wir sie vorbereitet, dass sie Hausaufgaben machen muss. Wir haben gesagt: Am Anfang sind wir dabei, später sind wir da, wenn du uns brauchst. Aber wir kontrollieren nicht, ob du die Hausaufgaben machst, dafür bist du verantwortlich. Wenn du sie nicht machst, ist das eine Sache zwischen dir und der Lehrerin.
Welche Rolle hat dann der Erwachsene?
Kinder brauchen uns Erwachsene wie Leuchttürme, die Signale und Orientierung geben. Kinder wollen wissen, was der Erwachsene von ihnen will. Und sie verstehen ganz schnell, wenn Erwachsene klare Signale geben und lernen, damit umzugehen. Wenn ich als Mutter oder Vater da aus der Verantwortung herausgehe, dann ist das katastrophal und führt zu unfruchtbaren Machtkämpfen.
Angenommen, mein Kind weigert sich, den Tisch abzuräumen. Wie sollte ich reagieren?
Wenn ich als Mutter oder Vater klar sage „Ich will, dass du den Tisch abräumst“ und das Kind sagt „Nein“, dann ist das einerseits auch gut. Wir wollen ja ein starkes Kind, das sich abgrenzen kann. Natürlich haben wir in diesem Moment einen Konflikt, aber das ist nichts Schlimmes.
Und wie löse ich den Konflikt?
Ich würde „schade“ sagen und mich umdrehen. So gebe ich dem Kind Zeit, noch mal zu überlegen. Wenn Eltern die Würde ihres Kindes achten, dann wird es in aller Regel kooperieren. Wenn sich Kinder aber nicht Ernst genommen fühlen oder wenn Drohungen im Raum stehen, dann ist das oft die Wurzel großer Konflikte. Die Kinder grenzen sich ab, es kommt zu Reibungen und Spannungen.
Sie sagen, Kinder sollen auch „Nein“ sagen dürfen – ohne Angst vor Strafe.
Wie gesagt: Kinder wollen kooperieren. Das ist eine faszinierende Beobachtung und Erkenntnis von Jesper Juul (Anmerkung der Redaktion: ein dänischer Familientherapeut), die unsere Erziehungshaltung gänzlich verändern müsste. Die Aufgabe der Eltern ist es, das passende Betriebsklima zu schaffen: Ein Klima, in dem das Kind sagt: „Ja, ich mach’s“, in dem Eltern aber auch mit einem „Nein“ leben können. Denn wenn Kinder ständig „Ja“ zu allem sagen, dann sagen sie „Nein“ zu sich selbst. Spätestens wenn ein Kind 14 oder 15 Jahre alt ist, dann wollen wir doch diese innere Festigkeit – dass es „Nein“ sagt, ohne Angst zu haben, dass es beispielsweise ausgeschlossen wird aus seiner Clique.
Trotzdem ist es so, dass die meisten Menschen Konflikten aus dem Weg gehen. . .
Ja, es herrscht noch immer das Bild aus der Margarinewerbung mit einer harmonischen Familie um den Frühstückstisch. Aber Konflikte sind nichts Negatives. Im Gegenteil, sie sind zwingend notwendig, um zu lernen.
Die Pubertät gilt ja als besonderer Härtetest für Eltern. Was wäre da Ihr Tipp?
In der Pubertät braucht mich mein Kind als Sparring-Partner. Der Begriff kommt aus dem Boxsport, bei dem der Trainer einen großen Schaumstoffhandschuh hat, um den möglichst größten Widerstand für den Champion zu bieten – ohne ihn zu verletzen. Ich muss also meinem Kind maximalen Widerstand geben und gleichzeitig engen Kontakt halten. Eltern müssen ihre Meinung sagen, aber entscheiden muss letzten Endes der Jugendliche.
War es früher einfacher, Kinder zu erziehen oder haben sich Eltern einfach weniger Gedanken gemacht?
Ich glaube, Eltern haben sich immer viele Gedanken über Erziehung gemacht. Es war früher vielleicht tatsächlich einfacher, die Frage ist nur: zu welchem Preis? Im Industriezeitalter waren angepasste Leute das Ziel, die pünktlich am Arbeitsplatz erschienen. Die Kinder von heute werden ganz andere Anforderungen erfüllen müssen. Wir werden mehr Menschen brauchen, die aus sich selbst heraus motiviert sind und nicht nur dem Geld hinterher rennen.
Das klingt nach einer schwierigen Aufgabe.
Dabei ist es völlig legitim, Fehler zu machen. Perfekte Eltern – wenn es solche gäbe – wären furchtbar für die Kinder.