Scheinmedikamente sollten keine Wirkung haben, und doch können sie helfen. Dieser Placebo-Effekt hat eine Kehrseite, den Nocebo: Die Warnung vor Risiken und Nebenwirkungen kann krank machen.

Stuttgart - Vor einigen Monaten hat sich in einem Zug wohl jemand einen Spaß erlaubt: Er drückte Reisenden einen Zettel in die Hand, auf dem deutlich zu lesen war: „vergiftet“. Einige der Fahrgäste mussten anschließend mit Vergiftungssymptomen im Krankenhaus behandelt werden. Das Papier war aber tatsächlich nur ein Blatt Papier. Und weder mit Milzbranderregern oder ähnlich tödlichen Bakterien verseucht, wie sich manch einer der eingebildeten Kranken nach dem Kontakt vielleicht vorgestellt hatte. In den Kliniken wurde daher bei den vermeintlichen Patienten auch nichts festgestellt. Sie fühlten sich elend, obwohl sie kerngesund waren – allein durch die Kraft der Vorstellung.

 

„Dies ist ein Paradebeispiel für den Nocebo-Effekt, den bösen Bruder des Placebo-Effekts“, erklärt der Medizinhistoriker Robert Jütte. Er leitet seit 1990 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart und wird bei der Leser-Uni in seinem Vortrag „Placebo – die Heilung aus dem Nichts“ erklären, wie sich die Erwartungen und Gedanken eines Menschen auf seine körperlichen Reaktionen niederschlagen.

Placebo und Nocebo funktionieren vermutlich auf ähnliche Weise. Ein Patient wird sich besser fühlen, nachdem er ein Scheinmedikament eingenommen hat (Placebo, das bedeutet: ich werde gefällig sein). Allein das Wissen über Risiken und Nebenwirkungen nach der Einnahme eines Medikaments kann das Gegenteil bewirken (Nocebo, das bedeutet: ich werde schaden).

„Die Behandlung der unerwünschten Nebenwirkungen von Medikamenten verursacht weltweit enorme Kosten“, berichtet Jütte. Und dabei ist nicht immer klar, ob es sich erstens um eine tatsächliche Nebenwirkung der Arznei handelt, zweitens um den Nocebo-Effekt oder drittens das Symptom einer weiteren Erkrankung des Patienten. Dies sei wissenschaftlich bislang kaum erforscht, meint der 58-jährige Medizinhistoriker und wird noch in diesem Jahr eine Arbeitsgruppe gründen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen soll.

Viel zu wenig Studien

Datenbanken wie etwa Pub-Med, in der mehr als 20 Millionen Beiträge aus medizinischen Fachzeitschriften enthalten sind, verzeichnen weltweit nur 177 Studien zu diesem Thema – beim Placebo hingegen sind es mehr als 150.000. Dabei zeigte sich in den vergangenen Jahren immer häufiger, dass der Nocebo-Effekt nicht nur pure Einbildung ist. Vielmehr reichen negative Erwartungen an eine Therapie aus, um reale Krankheitssymptome hervorzurufen. Daran sind auch oft diejenigen schuld, die man nach Risiken und Nebenwirkungen fragen sollte: Arzt und Apotheker. „Die Wahl der Worte spielt im modernen Medizinbetrieb eine immense Rolle“, so Jütte.

Viele negative Folgen könnten Jütte zufolge verhindert werden. Erklärt der Arzt dem Patienten, es werde gleich ein bisschen schmerzen, löst allein der Begriff „Schmerz“ eine negative Grundhaltung aus, und die Injektion wird garantiert wehtun. Bereitet man den Kranken auf die Spritze mit den Worten „es wird sich gleich ein leichter Reiz einstellen, der etwas unangenehm werden kann“, wird der Patient zwar auch nicht jubilieren, aber sich nicht so schlecht fühlen. Bei negativen Erwartungen werden im Gehirn vermutlich Botenstoffe ausgeschüttet, die auch bei Panik und Furcht eine Rolle spielen. Gehemmt werden hingegen jene Neurotransmitter wie etwa Dopamin, die eine positiv motivierende Grundstimmung bewirken.

Fingerspitzengefühl

Die gilt auch für die Aufklärung des Patienten bei der Verordnung von Medikamenten. Es sei ein Unterschied, ob man dem Patienten sage, „die meisten Patienten vertragen das Mittel gut“, anstatt: „Fünf Prozent der Betroffenen berichten über Nebenwirkungen.“

„Der Arzt braucht Fingerspitzengefühl bei seiner täglichen Arbeit. Der Mediziner oder auch das Pflegepersonal sollten alles dafür tun, negative in positive Erwartungen zu verwandeln“, erklärt Jütte. Auch das Internet dürfe in Sachen Nocebo nicht unterschätzt werden. Sehr viele Patienten informieren sich zum Beispiel in Online-Foren über Wirkungen und Nebenwirkungen eines Medikaments. Das sei gefährlich, sagt Jütte, weil in diesen Foren unkontrolliert jede mögliche und unmögliche Wirkung eines Mittels oder einer Therapie diskutiert, bejubelt oder infrage gestellt werde. Da sei es fast schon logisch, dass sich eine Erwartung bestätige – oft gefolgt von körperlichen Symptomen.

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Der Referent: Robert Jütte

Historiker
Robert Jütte (58) leitet seit 1990 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart. Er hat Germanistik und Geschichte studiert. Interessiert hat er sich schon immer für Hospitäler und die Geschichte der Patienten.

Placebo-Experte
Jütte leitete jüngst eine Arbeitsgruppe der Bundesärztekammer, die sich mit dem Placebo-Effekt beschäftigte. Der Stuttgarter Historiker ist schon seit einigen Jahren im wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer. Bei dieser Studie zeigte sich, dass Placebos sehr viel stärker und komplexer wirken als bisher angenommen.

Wenn Jütte selber Medikamente nehmen muss, liest er sich den Beipackzettel gar nicht erst durch. „Sollte man sich während der Einnahme schlecht fühlen, reicht es immer noch, den Arzt zu fragen, ob dies möglicherweise etwas mit den Medikamenten zu tun hat“, sagt er.

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