Pestizide in Lebensmitteln halten viele Menschen für bedrohlich, fettreiche Nahrung nicht. Die Statistik sagt das Gegenteil. Der Stuttgarter Soziologe Ortwin Renn ging in der Leser-Uni den Gründen für Fehleinschätzungen von Risiken nach.

Stuttgart - Fragt man die Menschen danach, was sie für die größten Gesundheitsrisiken durch Lebensmittel halten, dann stehen Pestizidrückstände an erster Stelle, gefolgt von chemischer Konservierung und gentechnischen Veränderungen. Erst an 24. Stelle kommen mögliche Gefahren durch zu üppiges Essen, das zu Übergewicht führt. Diesen Zahlen stellte der Stuttgarter Risikoforscher Ortwin Renn gleich zu Beginn seines Vortrags eine andere Rechnung gegenüber. Demnach erkranken von 100 000 Menschen im Laufe ihres Lebens 26 000 an Krebs. Dabei haben 9000 Krebsfälle ihre Ursache in ungesunder Ernährung: zu viel, zu fett und unausgewogen. Durch Pestizide und chemische Konservierung bekommen dagegen nur ein bis zwei dieser 100 000 Menschen Krebs. Zwar immer noch zu viele – aber dennoch steht die Zahl in keinem Verhältnis zu dem Risiko, das falsche Ernährung mit sich bringt.

 

Diese Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung von Risiken und der wissenschaftlichen Analyse von Daten zog sich wie ein roter Faden durch Renns Vortrag mit dem Titel „Fürchten wir uns zu Tode?“ Ein weiteres Beispiel: 78 Prozent der Menschen glauben, dass hierzulande das Leben unsicherer und gefährlicher geworden sei. Doch die Statistik sagt genau das Gegenteil: Noch nie war die Lebenserwartung so hoch, auch weil die Zahl der Unfälle im Straßenverkehr und im Beruf massiv zurückgegangen und auch die medizinische Versorgung viel besser geworden ist. Einzig bei den Sportunfällen ist eine Zunahme zu verzeichnen – für Renn ein Hinweis darauf, dass sich viele Menschen in ihrem sicheren und reizarmen Leben nach dem „Thrill des Risikos“ sehnen, wie er es ausdrückt.

Viele Risiken sind nicht mehr sinnlich wahrnehmbar

Wie aber kommt es, dass es den Menschen ganz offensichtlich so schwer fällt, die modernen Risiken richtig einzuschätzen? Zum Teil liege das daran, dass viele Risiken „nicht mehr sinnlich wahrnehmbar seien“, meint Renn. Der Rinderwahnsinn BSE oder die Handystrahlen sind nicht sichtbare Risiken, bei deren Einschätzung die Menschen auf die Information durch Andere angewiesen seien, denen sie dann vertrauen müssten, so Renn. Dabei kämen dann aber schnell „periphere Merkmale“ ins Spiel, vielleicht sogar, ob jemand, auf dessen Meinung man vertrauen möchte, eine Krawatte trage oder nicht. Sich in dann irgendwie über das wahre Risiko klar zu werden, ist schwierig.

Schwer fällt es vielen Menschen auch, sich mit den meist unterschätzten Gefahren zu befassen, den – wie es Renn nennt – systemischen Risiken. Dazu zählt er die globalen Eingriffe des Menschen in die Natur, die etwa zur Klimaerwärmung und zum Artensterben führen, oder Finanz- und Bankenkrisen. Auch Sinnkrisen gehören dazu und „Identitätsverluste, die den größten Einfluss auf das Selbstwert- und Selbstzufriedenheitsgefühl haben“, so Renn. Und hier schließt sich der Kreis, weil das Gefühl, sinnlos zu existieren, die Gefahr depressiver Erkrankungen mit sich bringt. Und Experten schätzen, dass bis 2015 Depressionen weltweit zur häufigsten Krankheit werden. Um so wichtiger ist der Rat, den Ortwin Renn seinem Publikum mit auf den Weg gab: sich nicht vor Dingen zu fürchten, die nicht furchterregend sind, und eine bessere Balance zwischen Risiken und der Angst davor zu finden.