Immer mehr junge Städter leben alleine. Sie wollen sich selbst verwirklichen und streben nach Höherem. Autor Michael Nast, der in Stuttgart liest, nennt die Generation der um die 30-Jährigen beziehungsunfähig. Aber ist sie das wirklich?

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Wer über mehrere Monate oder Jahre als Single durchs Leben wandelt, kann sich vor Hilfsangeboten kaum retten. Das reicht von Gedankenspielen aus dem Bekanntenkreis wie: „Mal schauen, wen ich kenne, der auch alleine ist“, bis hin zum ultimativen Pro-Tipp: „Versuch es doch im Internet.“ Es ist ratsam, diese Unterstützungsangebote stillschweigend anzunehmen, sonst gilt man schnell als undankbar oder zu wählerisch. Oder als armer Tropf. „Ja, ja, für wen willst du auch Plätzchen backen?“, fragt die Oma mitleidig beim weihnachtlichen Kaffeekränzchen.

 

Seine Lesungen sind meist ausverkauft

Wer längere Zeit Single ist, mit dem stimmt etwas nicht. Das denken zumindest die anderen. Und die Generation der 30- bis 40-Jährigen scheint sowieso nicht mehr fähig zu sein, eine stabile Bindung einzugehen. Seit dem Erscheinen von Michael Nasts Kolumne „Generation beziehungsunfähig“ ist diese These populär. Der Berliner Autor hat seine Theorie im vergangenen Jahr in einem Online-Magazin veröffentlicht, und innerhalb einer Woche wurde der Text eine Million Mal angeklickt, zeitweise brachen die Server zusammen. Nast hat mit einem entsprechenden Buch nachgelegt – natürlich längst ein Bestseller. Jetzt tourt der 41-Jährige durchs Land und liest vor ausverkauften Hallen.

Auf den 200 Seiten mit – recht banalen – Alltagsbeobachtungen aus dem Berliner Leben des Autors scheinen sich viele Leser wiederzufinden und angesprochen zu fühlen. Ich-Bezogenheit, Selbstverwirklichungswahn und Konsumdenken auch in Beziehungsdingen wirft Michael Nast seiner Generation vor: „Das eigene ‚Ich‘ ist unser großes Projekt. Wir werden zu unserer Marke.“ Und immer gehe es um Perfektion, das Streben nach Höherem: „Man weiß einfach, dass es irgendwo noch jemanden gibt, der besser zu einem passt, der das eigene Leben sinnvoller ergänzt.“

Auch der Kolumnist der „Neuen Zürcher Zeitung“, Milosz Matuschek, der als „Dr. Strangelove“ über die Liebe bloggt, unterstellte dieser suchenden Generation jüngst, sie würde sich in Beziehungen ständig „alle Türen offen halten und am Ende ihr Leben auf dem Flur verbringen“. Das vermeintliche Überangebot an bindungswilligen Pendants sei schuld, dass die jungen Menschen bei der Partnersuche im ewigen Vielleicht-Zustand verharren.

Dating-Portale verführen zu einer Versandhausmentalität

Ganz unrecht haben beide wohl nicht. Selbstverwirklichung und Freiheit erscheinen vielen, vor allem im städtischen Akademikerumfeld, zunächst wichtiger als Partnerschaft, Kinder und Häuslebauen. Und die Dating-Portale verführen bei der Partnersuche zu einer Versandhausmentalität. Die These beider Autoren impliziert allerdings, wer nicht in einer langjährigen Beziehung steckt, bei dem laufe etwas schief. Der Großteil einer Generation leide an Ich-Sucht und Beziehungsphobie – das klingt wie eine klinische Diagnose, eine Stigmatisierung der Alleinlebenden. Dabei sind solche Verallgemeinerungen einer ganzen Generation in etwa so aussagekräftig wie Charakterzuordnungen nach Sternzeichen.

Politisch, ökonomisch, technisch und sozial entwickelt sich unsere Gesellschaft permanent weiter, erfindet sich neu, nur die Partnerschaft soll immer gleich bleiben. Dabei verklären wir das jahrhundertealte Modell der Zweisamkeit, die bis ans Lebensende halten muss. Vielleicht scheitern wir genau an dieser Illusion. Die ganz große Liebe bis zum Tod gab es doch auch früher schon selten. Beziehungen hielten damals bekanntermaßen schlicht deshalb länger, weil die Ehe ein Überlebensmodell war: Aus gesellschaftlichen und finanziellen Gründen war es notwendig, eine Partnerschaft einzugehen und diese auch ein Leben lang zu erhalten. Große Gefühle hatten damals keine Priorität, und Frauen waren untergeordnet. Wenn die Rollen so klar verteilt sind, bleibt das Modell stabil.

Heute müssen Frauen keine Beziehung mehr führen, um sich und ihre Kinder versorgt zu wissen. Junge Frauen studieren und promovieren, sie machen Karriere und arbeiten erfolgreich in ihrem Beruf. Eine Beziehung muss sich heute deshalb oft nach zwei Lebensläufen richten, nicht mehr nur nach dem des Mannes. In Zeiten von flexiblen Arbeitsmärkten, in denen ein Partner unter Umständen heute in Berlin und morgen in New York arbeitet, der andere in München und Shanghai, wird es erst recht schwieriger, Partnerschaften aufrechtzuerhalten.

Und Frauen können jetzt wählerischer sein. Oder wie es die stellvertretende „Zeit“-Chefredakteurin Sabine Rückert in „Zehn Wahrheiten für junge Frauen“ unlängst formuliert hat: „Sie haben die Qual der Wahl. Weder Moral noch Finanzen noch die Angst vor dem Jüngsten Gericht fesseln sie an jemanden.“

Die Unabhängigkeit der Frauen verändert auch die Liebesbeziehungen

Liebesbeziehungen sind also im Umbruch. Das ergab auch die jüngste, repräsentative Vermächtnisstudie, die das Sozialforschungsinstitut infas zusammen mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und der Wochenzeitung „Die Zeit“ erstellt hat. Vor allem Frauen wünschen sich demnach diese neue Beziehungsformen. In den Mittelpunkt der Paarbeziehung rücke die Selbstbestimmung des Einzelnen. Diesen Trend forcierten die Frauen, sie gelten als „Treiber der Veränderung“ und strebten eher partnerschaftliche als romantische Modelle an. Die befragten Männer hingen hingegen noch dem traditionellen Liebesbegriff nach.

Dabei sind es doch eher Frauen, die weiterhin wesentlich weniger vor einer festen Bindung zurückschrecken. Soziologen glauben, die neue Macht der Frauen fordere die Männer heraus, sie fühlten sich in ihrer Identität bedroht, zögen sich noch mehr zurück. Michael Nast fordert in seinem Kapitel „Der neue Mann“, Frauen müssten sich entspannen. „Sie sollten die Dinge laufen lassen, denn genau das ist es, wonach sich die Männer sehnen. Dass die Dinge ineinandergreifen, sich auf natürliche Art entwickeln. Ohne diesen Druck.“ Die Frau soll sich so verhalten, dass der Mann sich wohlfühlen kann. Das klingt wie ein Ratschlag aus den 1950er Jahren.

Mehr Freiheiten bedeuten für Paare aber auch, dass ständig alles neu verhandelt werden muss und beide Seiten aufeinander eingehen sollten. Nur so können sie sich von Modellen des Zusammenlebens emanzipieren, die noch aus der Lebenswelt ihrer Eltern und Großeltern stammen.

Junge Menschen sind heute in Liebesdingen so frei wie keine Generation zuvor

Das Bindungsverhalten wird durch das engste Umfeld geprägt, oft bereits seit der frühen Kindheit. Aufgewachsen sind die meisten von uns mit klassischen Rollen- und Beziehungsmodellen. Vor allem Frauen verspüren in der Familie einen noch größeren Druck, sich an die Werte der Mütter und Großmütter anzupassen. Ihnen fällt es häufig schwer, sich von diesen weiterhin existierenden Ansprüchen zu lösen. Dabei sind sie in Liebesdingen so frei wie noch keine andere Generation zuvor. Wie Paare leben, können sie weitestgehend selbst entscheiden, Frauen können mit Frauen zusammen sein oder Männer mit Männer, in getrennten Wohnungen, verheiratet oder nicht. Es ist alles offen, Liebende müssen weder gesellschaftliche Ächtung noch ökonomische Konsequenzen für  ungewöhnliches Beziehungsverhalten befürchten.

Die Psychologin Stefanie Stahl ist Autorin mehrerer Bücher zum Thema Bindungsphobie. Sie sieht in der neu gewonnenen Freiheit auch eine Chance für Paare und merkt an: „Menschen hatten schon immer Probleme mit ihren Beziehungen. Das hat nichts mit der Generation zu tun. Auch wenn das nun plötzlich jeder nachplappert.“ Nur etwa 30 Prozent der Bevölkerung hätten tatsächlich einen „unsicheren Bindungsstil“. Sie hielten Nähe und Verbindlichkeit einer festen Beziehung schlechter aus. Häufig stellten sich bei den Bindungsphobikern nach der ersten Phase der Verliebtheit große Zweifel sowie gar Angst und Panik ein, sie fürchteten sich davor, emotional abhängig zu sein. Sie flüchteten sich in Fernbeziehungen, in die Arbeit, Affären mit Verheirateten oder ließen in einer Beziehung keine Nähe zu. Weil früher das gesellschaftliche Korsett enger war, habe sich eine Bindungsphobie seltener bemerkbar gemacht. Heute kann jeder eben auch seine Neurosen offener ausleben.

Hochzeit, Kinder und Haus auf dem Land – Zurück zur Spießigkeit

Zudem beobachtet die Psychologin auch einen verblüffenden Gegentrend: „Die jungen Leute sind heute viel spießiger als noch zu meiner Jugendzeit.“ Viele lernten sich früh kennen und blieben zusammen. Sie wünschen sich eine prachtvolle Hochzeit, mehrere Kinder und ein Haus auf dem Land. Statistiken sprechen die gleiche Sprache: In den vergangenen drei Jahren sind die Zahlen der Eheschließungen und die Geburtenraten wieder leicht gestiegen.

Die Sehnsucht nach einer klassischen, stabilen und verlässlichen Bindung ist und bleibt ein urmenschliches Bedürfnis. Fast jeder möchte über kurz oder lang mit jemand anderem zusammen weniger allein sein. Aber vollkommen normal ist es auch, sich zeitweise auf andere Dinge als die Liebe zu konzentrieren oder nicht immer gleich bei dem Richtigen zu landen. Der Psychoanalytiker Michael Jung glaubt: „Gerade im Wechsel realisiert sich heute oft erst das Bindungsvermögen.“ Manche suchen einfach länger. Denn etwas Glück gehört bei der Liebe eben nach wie vor dazu.

Für den 3. Mai gibt es noch Karten

Die Lesung von Michael Nast am 21. April in der Kulturhaus Arena in Wangen ist ausverkauft. Für die Lesung am 3. Mai gibt es noch Karten. Die Stadtkind-Kolumne startet in der kommenden Woche mit der Serie „Wie liebt eigentlich Stuttgart?“