Roger Willemsen, im Februar gestorben, hat uns mit „Wer wir waren“ fünfzig Seiten Bestandsaufnahme hinterlassen, nach deren Lektüre die Welt noch einmal anders ausschaut.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Wir wussten viel und fühlten wenig/Zeitkritik/Roger Willemsen, im Februar gestorben, hat uns mit „Wer wir waren“ fünfzig Seiten Bestandsaufnahme hinterlassen, nach deren Lektüre die Welt noch einmal anders ausschaut. /Von Mirko Weber/

 

Roger Willemsen konnte Sätze schreiben, die waren nicht nur wie Musik - die waren Musik. Nehmen sie bitte - unzählige andere wären grad so gut - gleich diesen: „Gegen Abend schoben sich die Wolken zu einer Fläche zusammen, und ich ging zurück in die Welwyn Street: Imperfekt nach den Gesetzen der Harmonielehre: ein Intervall von der dritten Person Plural zur ersten Person Singular.“

Es handelt sich hier um den Auftakt zum Kapitel „Der ABC-Schütze“ in Willemsens geheimnisvollstem Buch, „Figuren der Willkür“ von 1987. Da war er, geboren 1955, schon zwei Jahre über Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ promoviert, aber bereits nicht mehr Assistent bei den Germanisten an der LMU in München. „Figuren der Willkür“ ist ein Buch über Bücher (und selber Literatur). Es will, vereinfacht gesagt, alle Kunst, die stets unter Legitimationsdruck steht, aus der Defensive führen. Wer’s nachliest, spürt: hier gründet eines von Willemsens Lebensthemen. Er wollte eben nicht nur, subventioniert von der Allgemeinheit, spielen. Er wollte es wirklich wissen.

Danach überstürzten sich bekanntermaßen die Dinge, und er selber, ein quicklebendiger, fast immer fröhlich-fiebrig wirkender rheinischer Stehaufmann, tat sein Möglichstes, um alles, was ohnehin zu schnell lief, noch zu beschleunigen. Seiner singulären Rolle im Fernsehen, das er bis zu seinen eigenen Auftritten in „0137“ und dann „Willemsens Woche“ als Medium komplett ignoriert hatte, folgten die Moderatorenjahre, ein Buch nach dem anderen („Kleine Lichter“, „Der Knacks“, „Hier spricht Guantánamo“, „Das Hohe Haus“), die Bühnenprogramme, der Afghanischen Frauenverein (wo er Schulen und Brunnen bauen half) und und und. Im Quadrat.

Und dann: ein frühes Ende. Im Jahr 2015 erfährt Willemsen von seiner Krebserkrankung und zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück. „Er tat dies so konsequent“, schreibt die Publizistin Insa Wilke (der wir das Buch „Roger Willemsen. Der leidenschaftliche Zeitgenosse“. S. Fischer Verlag, verdanken), „wie er von jeher schrieb, sprach und handelte.“ Im Februar 2016 stirbt er, 60 Jahre alt.

Roger Willemsens Nachlass ist ein schmaler Band, ein Bruchstück von gerade mal 50 Seiten, das ein großes Buch hätte werden sollen, den Titel hatte er schon: „Wer wir waren“. Eine „Zukunftsrede“, und wenn es so etwas wie das Buch des Jahres gäbe, dann wäre es am Ende dieses: ein Vortrag, zweimal probeweise gehalten, dann zur Seite gelegt. Und dennoch: ein Aufruf.

Ganz am Anfang empfängt einen kurz noch die vertraute Willemsensche Melodie, mit der sich immer Brücken schlagen ließen: „Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten.“ Bevor sich nun aber jemand behaglich zurücklehnte, um eine leicht elegische Kulturkritik zu genießen, wird Willemsen, auch das war immer seine Domäne, „wesentlich“, wie es beim barocken Dichter Angelus Silesius („Mensch, werde wesentlich…“) heißt. Willemsen wird es auch deshalb, weil er befürchtet, dass wir „das Menschsein“ wohl aufgeben haben werden, wie er im durchgängigen Futur II schreibt, und uns künftig „weniger mitfühlend, weniger solidarisch, weniger sentimental“ verhalten.

Verstand sich der Mensch Anfang des 20. Jahrhunderts noch als Subjekt der Moderne, ist er nun eher zu ihrem Objekt geworden, konstatiert Willemsen, der weit entfernt davon bleibt, in Kulturpessimismus zu machen. Er schaute nur genau hin auf uns und wie wir sind. Der „Wesentlichkeit“ setzen wir die „Selbstoptimierung“ entgegen, die den Rechner in den Himmel unserer Vorbilder promoviert hat: „Ein Vorbild, das nicht nach der wichtigsten Information fragt, sondern nach der ersten, und diese ist bezeichnenderweise an den Verkauf gebunden.“ Nicht zufällig kommt Willemsen noch einmal auf Ulrich zu sprechen, Musils „Mann ohne Eigenschaften“, der uns rund 100 Jahre ist das jetzt her, schon einen Vorgeschmack gegeben hat, wer wir sein würden, später – jetzt: „Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit.“

Die Digitalzeit hat derweil den Homo sapiens in den „Second-Screen-Menschen“ verwandelt, dem der eine Bildschirm nicht mehr reicht, „der ohne mehrere Parallelhandlungen die Welt nicht erträgt und im Blend der Informationen, Impulse und bildbegleitenden Affekte sich selbst eine Art behäbiger Mutterkonzern ist, unpraktisch konfiguriert und irgendwie fern und unerreichbar.“ Dies alles wird, man muss es nochmal sagen, ohne jede Bitternis vorgetragen. Willemsen hat für Posen keine Zeit. Er will nur sagen, wie es ist. Und sagt es: unser Kapitulieren vor den Verhältnissen ist auch ein „Mit-der-Zeit-gehen“ vor der „letzten Epoche der Utopie“.

Im Angedeuteten, Ungesagten bleibt das Buch ein Plädoyer für Mitmenschlichkeit (und für Gefühle), wohl wissend, dass große Teile der Erdbevölkerung sich gerade anschicken, freiwillig atomisiert zu leben: „Keine Zeit ha je eine Öffentlichkeit so mikroskopisch genau zerlegen und detailvergrößern können wie diese. Unsere Geschichten vervielfältigen sich ins Maßlose“, doch kann, denkt Willemsen, unsere Empathie nicht mithalten. Auch ästhetisch bleibt Einiges auf der Strecke: der Flaneur ist ins Netz abgedreht, der epische Ich-Roman zwar inflationär geworden, aber doch eigentlich am Ende. Es dominiert, profan gesagt, der „Fortsetzungsroman des Lebens“, nach draußen gespiegelt: „Ich habe gegessen, ich war krank, ich reiste, der Blick aus meinem Hotelzimmer war dieser: ein Haus, ein Hund, ein Schuh, ein Wetter…Wir waren uns selbst genug.“

In den Gesprächen mit Insa Wilke (siehe oben) hat Willemsen im Jahr vor seinem Tod mit selbst für seine Verhältnisse bemerkenswerter Offenheit geantwortet: „Wenn ich eine Idee verraten habe“, sagte er da rückblickend, „dann ist es die der Systemkritik“. Wissend, dass er die Strukturen nicht grundsätzlich ändern könne, habe er sich stattdessen – unter anderem als Helfer in Afghanistan - in der „apokalyptischen Perspektive schuldbewusst eingerichtet, gemeinsam mit der Mehrheit.“ Ganz zum Schluss nun versucht Willemsen, aus dieser Position, die ihn ohnmächtiger ausschauen lässt als er war, womöglich herauszutreten. Er gibt uns zu bedenken, dass es immer noch unser Bewusstsein ist, von dem das Sein abhängt (auch wenn dieses Bewusstsein schwindet). Und man fragt sich schon ein bisschen, was sich Roger Willemsen 2013 auch schon fragte, als er die Abschiedsrede auf seinen verstobenen Freund Dieter Hildebrandt hielt: „Wie sollen wir jetzt denken, kommentieren, Zeitgenossen sein, wenn du kein Zeitgenosse mehr bist?“

Roger Willemsen: Wer wir waren. S. Fischer Verlag. 60 Seiten, 12 Euro.