In „Dusk“, ihrer letzten Inszenierung für das Heidelberger Theater, erzählt Nanine Linning auf vielfältige Weise vom Abschied. Dass auch der designierte Stuttgarter Ballettintendant Tamas Detrich im Publikum sitzt, hat jedoch eher mit Neubeginn zu tun.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Heidelberg - „Kunst lebt vom Wandel“, sagt Nanine Linning, nach dem Grund gefragt, warum sie ihren Stuhl als künstlerische Leiterin der Tanzsparte am Heidelberger Theater zum Ende der Saison räumen will. Die Antwort der niederländischen Choreografin klingt fast ein wenig so, als falle ihr der Abschied leicht. Aber natürlich ist nach fünf erfolgreichen Jahren, am Ende der Spielzeit werden es sechs sein, auch Wehmut im Spiel. „Klar, lasse ich das nicht so leicht los. Ich habe in Heidelberg ein tolles Publikum aufgebaut. Ich habe mich geliebt und umarmt gefühlt von der Stadt, ihren Politikern und diesem Theater.“

 

Wie schwer Menschen das Abschiednehmen fällt, erzählt Nanine Linning auch in ihrer neuen und letzten Heidelberger Produktion, die am Samstag im Marguerre-Saal Premiere hatte. „Dusk“ heißt das Stück. Die Dämmerung als Übergang vom Tag zur Nacht habe aber nichts mit ihrer eigenen Loslösung vom Heidelberger Theater zu tun, betont Nanine Linning wenige Tage vor der Premiere am Telefon. „Wie fühlt man sich, wenn jemand stirbt, den man sehr lieb hatte? Diesen Prozess wollte ich auf die Bühne bringen“, sagt die Choreografin.

Tiefe Traurigkeit prägt jede Geste

Nach dem Verlust eines geliebten Menschen setzt sie die Dämmerung als Metapher für den schwierigen Weg vom Leben in den Tod, für den Kreislauf von Werden und Vergehen. Wenn auf der Bühne später Tänzer hinter einer milchigen Folie zu Schemen werden, wenn am Ende einer von einer dicken Bühnennebelwolke regelrecht verschluckt wird, dann weitet „Dusk“ persönlichen Schmerz zur ergreifenden Anteilnahme. Von Beginn an ist jede Geste der zwölf Tänzer von einer tiefen Traurigkeit getränkt, die Bewegungen verlangsamt und ihnen alles Spektakuläre verbietet.

Aber „Dusk“ ist jenseits aller persönlicher Trauerarbeit auch das Abschiedsstück von Nanine Linning in Heidelberg und genießt als solches noch mehr Aufmerksamkeit, als es die Produktionen der mit einer Auslastung von 97 Prozent erfolgreichsten Sparte sowieso tun. Dass mit Tamas Detrich der designierte Intendant des Stuttgarter Balletts im Publikum sitzt, hat derweil weniger mit Abschied, mehr mit Neubeginn zu tun. Detrich ist auf der Suche nach neuen Impulsen für seine zukünftige Kompanie. Fündig geworden scheint er, nachdem er den Vertrag des langjährigen Haus-Choreografen Marco Goecke nicht verlängert hat, auch bei Nanine Linning.

Nanine Linning will mit anderen Kompanien arbeiten

Dass sie nicht mehr fest an einem Haus, sondern mit anderen Kompanien arbeiten will, passt da. Auch mit dem Stuttgarter Ballett? Für konkrete Informationen über ihre anstehenden Projekte vertröstet die Choreografin zwar auf Januar, betont aber: „Ich mag diese Region und ihre Städte sehr und werde nicht weggehen. Die Bedingungen hier sind sehr spannend.“

Den Wandel in ihrer Kunst will die Choreografin vorläufig von Heidelberg aus voranbringen. Ausprobieren, längere Tourneen mit den eigenen Stücken, Künstler entdecken, einen Film drehen, überhaupt noch spartenübergreifender, mit Wissenschaftlern oder in einem Museum arbeiten: „Diese Sachen sind für eine Stadttheaterstruktur zu komplex“, sagt Linning. „Ich möchte auch einmal experimentieren, bei einer zweimonatigen Künstler-Residenz zum Beispiel, ohne dass es zu einer Premiere führen muss. Oder ein Solo für einen Tänzer choreografieren, ohne dass elf andere an der Seite sitzen und nichts zu tun haben.“

Die Interpreten empfehlen sich für neue Aufgaben

Eine Choreografin im Aufbruch und die Tatsache, dass der neue Heidelberger Tanzchef Iván Pérez nur zwei der Tänzer übernehmen wird, machen „Dusk“ auch zur Visitenkarte. 70 Minuten lang wird jede Bewegung mit solcher Präzision, ja mit fast klassischer Klarheit in den Raum gezeichnet, dass sich ihre Interpreten für viele Aufgaben empfehlen. Wie ein Körper bewegen sie sich zu Beginn durch den dunklen, leeren Raum, erzählen vom Aufgehobensein in der Gemeinschaft, umfangen und angetrieben vom sphärischen An- und Abschwellen einer Komposition von John Adams. Zu den jenseitigen Klängen Arvo Pärts und Mahlers Neunter, vom Philharmonischen Orchester Heidelberg fein modelliert, löst sich das Kollektiv dann auf: Der Tod, den erst ein Lichtstrahl, dann ein trüber Raum andeuten, macht sie zu Individuen, die einander begegnen, die aber letztlich ihren Weg alleine gehen.

Auch wenn im ersten Teil von „Dusk“ flirrende Stacheln den von Irina Shaposhnikova entworfenen Kostüme eine animalische Anmutung geben, fehlt der Qualität der Bewegungen das Kreatürliche, das Unmittelbare, das viele Werke Linnings wie „Hieronymus B.“, „The Black Painting“ für Gauthier Dance und jüngst „Bacon“ besonders machte. Kraftvoll, nachdrücklich ist der Tanz, aber immer aufs Wesentliche konzentriert wie der leere Bühnenraum und später auch die Trikots der Tänzer.

Das Nachdenken über den Tod habe sie an die Ursprünge ihrer Fantasie zurückgeführt, notiert Nanine Linning im Programmheft. Das ist bewegend inszeniert und schön anzuschauen, aber choreografisch eher konventionell als innovativ. Insofern ist „Dusk“ dann doch eher Abschied als Neuanfang.

Tanzstadt Heidelberg: Mit Nanine Linning wieder auf Kurs

Mit der Niederländerin zog 2012 die Tanzsparte wieder am Heidelberger Theater ein. Sie selbst kann am Neckar eine Erfolgsgeschichte fortsetzen, die bereits 2009 in Osnabrück begann. Seither ist jede Vorstellung ihrer Kompanie ausverkauft. 2012 kam sie nach Heidelberg und holte die Tanzsparte aus dem Dornröschenschlaf, in dem diese nach der Fusion mit Freiburg lag. In bildstarken Produktionen wie „Zero“, „Endless“ und „Hieronymus B.“ öffnete sie den Tanz für andere Künste. Ihr Engagement für die Tanzbiennale und das Choreografische Zentrum machten Heidelberg wieder zur Tanzstadt. 2018 gibt sie die Leitung der Tanzsparte ab.

1977 in Amsterdam geboren und in Rotterdamer zur Choreografin ausgebildet, war Nanine Linning von 2001 bis 2006 Haus-Choreografin des Scapino-Ballets. 2009 wechselte sie nach Osnabrück.

Ihr Stuttgarter Debüt gab die Niederländerin 2015 bei Gauthier Dance und machte, inspiriert von Goyas Kunst, in „The Black Painting“ Tänzer zu insektenhaften Wesen.