Viele Skandale wurden von ihm enthüllt: In Tübingen hat der Journalist Hans Leyendecker eine Lehrstunde über guten Journalismus abgehalten.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Dietrich Kittner, ein Hannoveraner Kabarettist, hat vor vielen Jahren eine empirische Untersuchung zur „Bild“-Zeitung angestellt. An zwanzig Zeitungskiosken im ganzen Land verlangte er „das Lügenblatt“. Zwanzigmal erhielt er die Zeitung mit den vier Lettern im Titel. Hans Leyendecker, der renommierteste investigative Journalist der Republik, hat diese Anekdote aus seinem Geschichtenfundus ausgegraben, um sie am Dienstagabend im voll besetzten Festsaal der Universität Tübingen zum Besten zu geben.

 

Seinen Vortrag „Die Zukunft der Enthüllung. Wut, Macht, Medien – wo bleibt die Aufklärung?“ hält der 63-jährige Ressortleiter der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) anlässlich seiner Berufung zur neunten Tübinger „Mediendozentur“, einer Kooperation des Instituts für Medienwissenschaft und des Südwestrundfunks, die Theorie und Praxis enger verzahnen soll. Auch Frank Schirrmacher, Roger Willemsen oder Giovanni die Lorenzo waren bereits „Mediendozenten“ in Tübingen.

Anschlag auf den journalistischen Anstand

Im Mai hatten Leyendecker und zwei weitere Autoren der SZ die Annahme des diesjährigen Henri-Nannen-Preises verweigert, weil zwei „Bild“-Reporter in derselben Sparte wie sie ebenfalls ausgezeichnet wurden, und zwar für ihre aufdeckende Recherche in der Affäre um den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff. Leyendecker erzählt die kleine „Bild“-Geschichte, um sich noch einmal mit aller Vehemenz von dem Boulevardblatt zu distanzieren: Schonungslos spricht er von einem „Drecks- und Lügenblatt“.

In den Medien war damals von einem „Eklat“ die Rede – er habe den Vorgang für „völlig normal“ gehalten, sagt Leyendecker. Es sei nicht darum gegangen, sich moralisch oder intellektuell über den Boulevard zu erheben – das hatten ihm danach viele unterstellt. Sondern darum, sich von den Recherchetechniken der „Bild“ zu distanzieren; Techniken, zu denen „Nötigung“ genauso zähle wie „journalistische Schutzgelderpressung“. „Die Auszeichnung der ,Bild‘-Zeitung war ein Ärgernis, ein Kulturbruch, ein Anschlag auf den journalistischen Anstand. Und es war eine Zustandsbeschreibung zugleich.“

Leidenschaft für das Wort und die Sache

Um diesen Zustand des Journalismus in Deutschland mit aller Gründlichkeit und Schärfe zu sezieren, hätten Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft, und der SWR wohl niemand Geeigneteren einladen können als diesen Vorzeigejournalisten, der, zuerst beim „Spiegel“, dann bei der SZ, an der Aufdeckung vieler die Republik erschütternden Affären beteiligt war und ist: dem Flick-Skandal, der CDU-Parteispendenaffäre oder auch der „Traumschiff“-Affäre, die 1991 Lothar Späth das Ministerpräsidentenamt kostete. Ein „Insider“, wie Pörksen in seiner Einführung sagt, aber einer, der sich die „kritische Distanz zum real existierenden Journalismus“ immer bewahrt hat. Und so gerät Leyendeckers Vortrag denn auch zu einer eindringlichen, stoffreichen und mit Verweisen auf allerlei Geistesgrößen gespickten Lehrstunde in gutem Journalismus, dem in diesen Zeiten ein starker Wind entgegenbläst. Er beschreibt, wie sich in den Medien statt Aufklärung Wut breitmacht, die oft ohne Argumente auskommt und im Internet ein treffliches Ventil findet, und wie sich durch das Netz die Gesetze der Skandalisierung verändert haben.

Barschel, Möllemann, Leuna, Wikileaks – anhand dieser Beispiele führt Leyendecker vor, welche Parameter die Medien allzu oft dirigieren und Mainstream-Journalismus oder „Aufregungskommunikation“ hervorbringen: Vorurteile statt ergebnisoffene Recherche, Heischen nach Aufmerksamkeit statt Relevanz. Die wirklich große Gefahr aber, sagt der Zeitungsmann, gehe von den Medien selbst aus: von einem Journalismus, der „Larifari an die Stelle von Haltung“ setze, von Verlegern, die den Journalismus „aus echten vermeintlichen Sparzwängen kaputt“ machten. Dass ihm das beste Gegenmittel, nämlich „die Leidenschaft für das Wort, für die Sache“ nie abhandengekommen ist, hat Leyendecker in Tübingen eindrücklich bewiesen.