FDP-Chef Christian Lindner kämpft nach dem Jamaika-Rückzug gegen den Vorwurf, aus Parteitaktik dem Land zu schaden. Er macht der Kanzlerin den Vorwurf, zu viel für die Grünen getan zu haben.

Berlin - FDP-Chef Christian Lindner setzt am Tag nach dem Rückzug aus den Jamaika-Gesprächen alles daran, seine Entscheidung nicht als verantwortungsloses taktisches Manöver wirken zu lassen. Die Liberalen würden bedauern, dass die Sondierungen nicht erfolgreich abgeschlossen werden konnten, sagt er. Man wisse, „in welcher schwierigen Lage unser Land jetzt ist“. Deshalb habe er die Entscheidung ja auch „nicht leichtfertig“ getroffen und „erst recht nicht aus der Spontanität eines Augenblicks heraus.“

 

Lindner zeichnet die Welt nach dem Ende der Jamaika-Träume im Groben so: Substanzielle inhaltliche Zugeständnisse an die FDP habe es nicht gegeben. Vertrauen sei ein Fremdwort gewesen. Und Kanzlerin Angela Merkel habe Warnsignale offenbar nicht ernst genommen. Das kritisiert in der FDP nicht nur er. Mit wem man auch im Kreis der Sondierer spricht, alle werfen Merkel eine kolossale Fehleinschätzung vor. Sie habe geglaubt, die FDP sei so billig zu haben wie 2009, als man Koalitionsverhandlungen schlampig führte und deshalb nach der Wahl 2013 nicht nur mit leeren Händen, sondern auch ohne Bundestagsfraktion da stand.

Die Liberalen seien nicht mehr so billig zu haben, heißt es

„Merkel hat einfach nicht begriffen, dass sich die FDP verändert hat und hat sich deshalb nur bemüht, die Grünen mit Angeboten einzufangen“, sagt ein Präsidiumsmitglied. Man ist sich an der FDP-Spitze einig: Das, was da auf dem Tisch lag, war viel zu wenig. „Wir wollen unseren Ideen und unseren Wählern treu bleiben“, sagt Lindner.

FDP-Chef Christian Lindner weiß allerdings auch, dass der Verdacht, Deutschland aus parteipolitischem Kalkül unregierbar zu machen, für die FDP mindestens so gefährlich ist wie der Vorwurf, wieder einmal umzufallen. Deshalb ist es für ihn von enormer Bedeutung, im Kampf um die Deutung über den Verlauf dieser Nacht ein Wörtchen mitzureden.

Der Ausstieg der FDP war demnach keine Kurzschlussreaktion, aber eben auch kein von langer Hand geplanter Coup. Als in der Nacht auf Freitag schon einmal die Gespräche kurz vor dem Scheitern standen, waren die Liberalen seinen Worten zufolge an der Schmerzgrenze angelangt. Am Freitag habe Lindner deshalb Merkel eindringlich gewarnt, dass die Dinge aus dem Ruder liefen. Am Samstag dann ein weiteres Mal, mit noch mehr Nachdruck. Geändert habe sich nichts. Statt Lösungen zu erarbeiten, sei die Zahl der streitig gestellten, in eckige Klammern gesetzten Punkten immer größer geworden. 237 seien es am Ende gewesen. Dabei sei, so ist im FDP-Verhandlungsteam zu hören, über so kritische Fragen wie Wohnungsbau oder Mietpreisbremse noch gar nicht gesprochen worden.

Das Kompromissangebot für den Soli war zu mager

Am Sonntag habe sich zunächst Bewegung abgezeichnet, sagt Lindner. In einem Gespräch der Verhandlungsführer hatte er den Eindruck gewonnen, dass Union und Grüne auf die FDP zugehen – beim Soli, beim Kohleausstieg, beim Einwanderungsgesetz. Dann aber hätten Union und Grüne wieder einen Rückzieher gemacht. Die Union habe der FDP beim Soli als Kompromiss lediglich ihr eigenes Wahlprogramm vorgeschlagen, das Abbauziele vorsehe, die weit hinter die liberale Position zurückfielen. Der Soli sollte maximal zur Hälfte abgebaut werden. Und selbst das sei dann noch von den Grünen in Frage gestellt worden. „Das war nach so vielen Wochen dann doch zu viel für uns“, sagt Lindner.

FDP-Verhandler nennen viele solche Beispiele. So sei die Privatisierung von Telekom und Post zur Finanzierung der Digitaloffensive Konsens gewesen, dann aber plötzlich aus dem Abschlusspapier verschwunden. Deshalb habe man am Sonntag gegen 23 Uhr in der Runde der Sondierer die Reißleine gezogen und gemeinsam das Schreiben aufgesetzt, das Lindner wenig später vortrug. Die Spekulation sei deshalb Unfug, er habe dieses Kündigungsschreiben schon seit Beginn der Gespräche in der Tasche getragen. Soll keiner glauben, er habe nicht ernsthaft verhandelt.

Das Präsidiumsmitglied Michael Theurer bekräftigt diese Sicht. „Der Vorwurf, dies sei ein inszenierter Abgang, ist infam. Wir haben mit Herzblut verhandelt und haben diesem Bündnis eine Chance geben, aber es ist vor allem in den Gesprächen mit den Grünen nicht das notwendige Vertrauen gewachsen“, so der baden-württembergische Landesvorsitzende im Gespräch mit unserer Zeitung. „Nach jedem Einlenken haben die Grünen drei andere Forderungen nachgeschoben”, kritisiert Theurer. Außerdem habe „diesem Projekt von Anfang an die Leitidee gefehlt“. Der Vorwurf, die FDP lasse Deutschland im Stich, um taktische Geländegewinne zu erzielen, sei an den Haaren herbei gezogen: „Es ist doch absurd: Jahrzehntelang wurde der FDP vorgeworfen, sie wolle um jeden Preis regieren, jetzt wirft man ihr vor, sie wolle nicht um jeden Preis regieren.“

Sehen Sie im Video eine Einschätzung von Politikchef Rainer Pörtner: