In den vergangenen zwei Monaten hat die StZ jeden Tag einen Feldpostbrief des Stuttgarter Soldaten Adolf Mann abgedruckt. Doch wie ging es nach der Ersten Weltkrieg weiter? Aus dem Lehrer wurde ein Unternehmer.

Stuttgart - Er kommt nicht mehr als jener zurück, als der er gegangen ist. November 1918. Vier Jahre voller Entbehrungen liegen hinter Adolf Mann. Der Mathematiklehrer hat in einigen der blutigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs gekämpft, er kennt nun die Formel für den Tod. Er weiß, wie sich das Pfeifen der Granaten anhört, wie Leichen riechen, die im Schützengraben liegen und nicht geborgen werden können. Das Heimweh nach seiner Elisabeth hat Adolf Mann beinahe umgebracht, das hat er seiner Frau aus dem Feld nach Stuttgart geschrieben. Er litt „Höllenqualen“, als seine Frau im Juli ihr erstes Kind bekam und man ihm den Urlaub verweigerte.

 

Der Erste Weltkrieg hat fast zehn Millionen Menschenleben gekostet. Adolf Mann hat ihn überlebt. Im November 1918 kehrt er aus der Nähe der belgischen Stadt Gent nach Stuttgart zurück. Auch die Stadt ist eine andere geworden, das Land ist nicht mehr jenes, das er verlassen hat. Kaiser Wilhelm II. richtet sich nach seiner Flucht in seinem niederländischen Exil ein, auch in Württemberg haben die Revolutionäre der Monarchie ein Ende gesetzt. König Wilhelm II. hat seine Residenz in Stuttgart verlassen und sich nach Bebenhausen zurückgezogen. Der Abschied schmeckt bitter. In Stuttgart sieht Adolf Mann viele seiner einstigen Kameraden als Krüppel wieder, als Blinde, als psychische Wracks, die nur körperlich den Krieg überlebt haben.

Für Adolf Mann schlägt die Stunde null. Seine Trommelfellverletzung ist weitgehend ausgeheilt, seine Chancen auf einen Neuanfang stehen besser als die vieler anderer Soldaten. Seine Frau Elisabeth, die Tochter eines wohlhabenden Stuttgarter Kunsthändlers, lebt in einem großbürgerlichen Haus zwischen der Etzel- und der Alexanderstraße. Den Großen Krieg, wie ihn die siegreichen Franzosen nun nennen, will Adolf Mann so rasch wie möglich vergessen. „Er hat die Bilder aus dem Krieg so sehr verdrängt, dass er später nie wieder über seine Erlebnisse gesprochen hat“, erzählt seine Tochter Sibylle Fischer.

In Stuttgart fehlt es im Nachkriegswinter 1918 an vielem – auch an Lehrern. So tritt Adolf Mann kurz nach seiner Ankunft in Stuttgart, wo er seine Frau Elisabeth und seine Tochter Lore wiedersieht, eine Stelle als Studienrat an der Prag-Bürgerschule an. Geometrie statt Granaten.

Bleyle braucht einen Mann, der rechnen kann

Die Zukunft scheint nun vorgezeichnet. Adolf Mann könnte eine Laufbahn im Schuldienst einschlagen – genau wie sein Schwager Konrad Gaiser, der später als Rektor das Zeppelin-Gymnasium in Stuttgart leitet. Doch erneut spielt der Erste Weltkrieg Schicksal für Adolf Mann. Im Schützengraben hat er den jungen Fritz Bleyle kennengelernt. Bleyle hatte kurz vor dem Krieg mit seinem Bruder Max den väterlichen Textilbetrieb übernommen. Dessen Sitz befindet sich Anfang des 20. Jahrhunderts unweit des Feuersees an der Rotebühlstraße. Den Namen Bleyle kennt in Stuttgart jedes Kind: Die Bleyle-Matrosenanzüge hängen in jedem Kleiderschrank.

Fritz Bleyle braucht nach dem Krieg jemanden, der rechnen kann, der Bilanzen beherrscht und dem er blind vertrauen kann. Er meldet sich bei Adolf Mann. 1921 wird aus dem Mathematiklehrer ein Geschäftsmann, der schnell aufsteigt in der Firma. Im Haus in der Etzelstraße erwartet Elisabeth Mann 1927 ihr zweites Kind, das die Eltern auf den Namen Sibylle taufen lassen.

Die heute 87 Jahre alte Tochter, die in Ludwigsburg lebt, erinnert sich gut an ihre behütete Kindheit. Als Adolf Mann bei Bleyle Karriere macht, wird der Wohlstand in der Etzelstraße unübersehbar. „Mein Kinderzimmer war üppig dekoriert“, erzählt Sibylle Fischer. „Reliefs zierten die Wandschränke, auf dem Boden wurde blaues Linoleum verlegt, und es gab zahllose Steiff-Tiere.“ Auf den Fotos aus jener Zeit ist die Mutter von Sibylle Fischer im Pelz zu sehen, beim Urlaub in Arosa und bei unbeschwerten Stunden im Garten. „Die Mutter war eine hochgestellte Dame“, erzählt Sibylle Fischer mit heiterem Spott in der Stimme. Im Dachgeschoss leben in den 1920er Jahren die Köchin, die Kinderfrau und das Zimmermädchen.

Morgens steigt die Köchin mit einem Tablett in der Hand die geschwungene Treppe hinauf, die zum Zimmer der Mutter führt. Auf dem Tablett steht ein Teekännchen mit gesticktem Wärmehalter, das sie oben auf einem Teewagen abstellt, den sie ins Zimmer der Dame schiebt. Die Hausherrin bewohnt ein Zimmer mit zwei opulenten Spiegeln, einem Diwan und einem Frisiertisch. Beim Frühstück bespricht Elisabeth Mann mit der Köchin den Einkaufszettel. Wenn Gäste eingeladen sind, sitzt Sibylle Fischer auf der Treppe und blickt neugierig hinab in das Wohnzimmer, in dem sich die feine Gesellschaft unterhält.

Die Goldenen Zwanziger

Für die Manns sind es goldene zwanziger Jahre. Doch mit der Machtergreifung der Nazis bröckelt auch im Haus in der Etzelstraße der Glaube an den Frieden. Im Alter von 48 Jahren übernimmt Adolf Mann die Betriebsführung von Bleyle, er entwickelt sich vom Angestellten zum Unternehmer. Ein Jahr später verändert der deutsche Überfall auf Polen alles. Erneut ist es die Weltgeschichte, die das Leben des Einzelnen bestimmt. Doch diesmal wird Adolf Mann nicht mehr als Kanonenfutter benutzt, er spielt nun selbst eine Rolle im Getriebe aus Politik, Wirtschaft und Macht. 1941 gründet Adolf Mann mit Erich Hummel in Ludwigsburg ein Unternehmen, das ihren Namen trägt. Um Textilien geht es nur am Rande. Die Stoffe dienen als Material für Filtertechnik, mit der Mann + Hummel in der Rüstungsproduktion mitverdient.

Rund 75 Jahre nach dem Kriegsausbruch führt die Spur zurück in die Geschichte von Mann + Hummel ins Staatsarchiv nach Ludwigsburg. Dort liegt eine Akte, die sich mit Adolf Manns Rolle als Betriebsleiter von Mann + Hummel beschäftigt. Es geht darum, inwiefern Adolf Mann von den „Arisierungen“ zweier jüdischer Firmen profitiert und ob er im Krieg die braune Propaganda unterstützt hat.

Die Klageschrift konzentriert sich auf Adolf Manns Funktion als „systemkonformer Firmenchef“, sie beantragt, ihn als einen „Hauptschuldigen“ einzustufen. Die Spruchkammerakte zeichnet ein Bild von Adolf Mann, das aus vielen Grautönen besteht. Dabei äußert sich unter anderen der Betriebsratschef der Filterwerke: Adolf Mann habe sich im Unternehmen nicht als Nazianhänger betätigt oder geäußert.

Mann wird mit als Mitläufer eingestuft

In seinem Urteil wägt das Gericht ab: Mann habe es in Kauf genommen, dass das NS-System durch seine regimetreuen Reden gestärkt worden sei. Andererseits habe er sich gegen Übergriffe von NS-Funktionären gegen seine Werksangehörigen gewehrt. Im Juli 1948 fällt die Spruchkammer ihr Urteil: Adolf Mann wird nicht als Hauptschuldiger oder als „Minderbelasteter“ eingestuft, sondern nur als Mitläufer. Er muss einen Sühnebeitrag in Höhe von 2000 Mark zahlen.

In der Nachkriegszeit wächst das Unternehmen Mann + Hummel, in dem heute mehr als 15 000 Mitarbeiter an 50 Standorten weltweit arbeiten. Adolf Mann stirbt im Januar 1971. Seine Tochter Sibylle erinnert sich an den Tag: „Er ging morgens in die Firma und kam nicht wieder nach Hause.“ Adolf Mann stirbt an Herzversagen.

Wenig später öffnet seine Frau Elisabeth noch einmal die alten Kartons mit seinen Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg. In einem der Briefe schwor ihr Adolf Mann, dass er immer für sie da sein werde. Elisabeth Mann notiert, Jahrzehnte später, auf diesem Brief mit roter Tinte: „Nun hast Du mich doch verlassen.“