Die Mehrheit der Forscher ist sich sicher: die indoeuropäischen Sprachen wurden zuerst von Hirten in der russischen Steppe gesprochen. Doch nun kommt eine Computeranalyse zu einem anderen Ergebnis – und facht einen alten Expertenstreit erneut an.

Stuttgart - Das Hethitische, längst ausgestorben, ist die älteste schriftlich belegte indogermanische Sprache. Sie wurde zwischen dem 16. und 12. Jahrhundert vor Christus in Anatolien gesprochen. Sie gehört damit zu einer Sprachfamilie, die sich im Laufe der Jahrtausende ausgebreitet hat und heute knapp 400 Sprachen umfasst, die von rund drei Milliarden Menschen gesprochen werden: dem Indogermanischen oder, wie man außerhalb Deutschlands sagt, dem Indoeuropäischen. Deutsch gehört zu dieser Sprachfamilie ebenso wie Russisch und Hindi.

 

Schon im 18. Jahrhundert haben Forscher verblüffende Gemeinsamkeiten zwischen Lateinisch, Griechisch und Sanskrit in Indien gefunden. Seither haben sie nicht nur einen Stammbaum der Sprachverwandtschaften akribisch zusammengetragen. Sie haben auch große Teile der Ursprungssprache, das Proto-Indoeuropäische, rekonstruiert. Doch die zwei wichtigsten Punkte in der Sprachgeschichte des Indoeuropäischen sind bis heute unentschieden, ja heftig umstritten: die Fragen, wo und wann die Ursprungssprache gesprochen wurde. War es in Anatolien, wo später auch Hethitisch gesprochen wurde, oder ganz woanders?

Der Streit schien eigentlich so gut wie entschieden

Die Kontroverse lässt sich an zwei Personen festmachen: an Colin Renfrew, einem britischen Archäologen an der Universität Cambridge, und an dem Amerikaner James Mallory, einem Indogermanisten an der Queen’s-Universität in Belfast. Beide Forscher sind seit Kurzem emeritiert, nach rund dreißigjährigem Schlagabtausch über die richtige Lehre.

Eigentlich hatte sich unter Sprachwissenschaftlern längst die mehrheitliche Meinung herausgebildet, dass das Indoeuropäische bei halbnomadischen Hirtenvölkern in der russischen Steppe nördlich des Schwarzen Meeres beheimatet war und von dort vor rund 4000 Jahren den Ausgang nahm. Da brachte der Archäologe Renfrew die Sprachwissenschaftler in den 80er Jahren mit seiner Behauptung aus dem Häuschen, das Indoeuropäische stamme aus dem südlichen Anatolien, der heutigen Türkei. Vor rund 9000 Jahren hätten sich Bauern mit ihren Techniken in Ackerbau und Viehzucht von Südanatolien über den Balkan in das westliche Europa, Nordeuropa und den mittleren Osten ausgebreitet. Mit der überlegenen Technik habe sich auch ihre Sprache durchgesetzt, argumentiert Renfrew.

Hat sich das Indoeuropäische so früh durchgesetzt wie Ackerbau und Viehzucht? Sprachwissenschaftler halten dagegen: Im Wortschatz der frühen indoeuropäischen Sprachen gibt es zwar Wörter für den Ackerbau. „Doch neben ihnen stehen Wörter für Viehhaltung, insbesondere Pferdehaltung und -zucht, oder für den Wagen nebst Rad, Achse und Nabe, die auf eine andere Herkunftsregion und ein viel späteres Datum der Aufspaltung hinweisen“, sagt der Freiburger Sprachwissenschaftler Axel Metzger. „Gerade im Hethitischen, einer der ersten Abspaltungen des Indogermanischen, sind etliche Ackerbauwörter aus den Sprachen der nicht indogermanischen Vorbevölkerung Anatoliens entlehnt.“

Ein Evolutionspsychologe mischt sich ein

Die indogermanischen Vokabeln für Pferd, Rad und Wagen führen vielmehr in die russische Steppe, wo die Hirten das Pferd domestizierten und damit neue Landstriche eroberten. Die frühesten Funde des von Zugtieren gezogenen Wagens reichen in eine Zeit um 3500 vor Christus zurück – also in eine Zeit, in der sich der Ackerbau schon längst ausgebreitet hatte.

„In der Vergangenheit wurde der Ursprung des Indoeuropäischen vom Nordpol bis Afrika überall gesucht“, witzelt James Mallory. Archäologische Funde und linguistische Hinweise sprächen für die russische Steppe. Seiner Ansicht folgt nach wie vor die überwiegende Mehrheit der Archäologen und Sprachwissenschaftler, wenngleich – das sollte man fairerweise sagen – sich kaum ein Forscher die Mühe macht, die archäologisch-linguistischen Puzzlesteine ein weiteres Mal neu zusammenzusetzen. Archäologisch ist die Beweislage in manchen Fällen sogar schwach, das sagt selbst Mallory zu seiner eigenen Theorie. Linguistisch sind die Hinweise vielfach hypothetisch. Die Ergebnisse beider Disziplinen abzugleichen ist eine Herkulesaufgabe. So hält sich in den Lehrbüchern, dass sich das Indoeuropäische auf eine Sprache zurückführen lässt, die vor 4000 Jahren in der russischen Steppe gesprochen wurde.

Da bringt es Unruhe, wenn sich noch ganz andere Forscher einmischen. Der Neuseeländer Quentin Atkinson ist kein Archäologe und auch kein Sprachwissenschaftler. Er ist Fachmann für genetische Stammbäume, wie sie Molekularbiologen beispielsweise verwenden, um die Verwandtschaft und globale Verbreitung von Grippeviren zu beschreiben. Diese Methodik mündet darin, ein Computerprogramm mit molekularbiologischen Virendaten zu füttern. Heraus kommen Verwandtschaftsverhältnisse unter den Viren und etwa der Ursprungsort einer Grippeepidemie.

Die Fachwelt ist alles andere als überzeugt

Der Evolutionspsychologe Atkinson untersuchte nun statt Viren die Verbreitung von 103 indoeuropäischen Sprachen und den Varianten im Vokabular. Dazu zählte zum Beispiel die geografische Verbreitung des Wortes für Mutter (siehe Karte oben) oder für die Zahl drei: three, trois, tres, tin, thrir, tri. Das statistische Verfahren von Atkinson und seinen Kollegen ist kompliziert, ihr Ergebnis – publiziert im Wissenschaftsmagazin „Science“ – hingegen klar: Südanatolien, vor 8000 bis 9500 Jahren. Sie stießen in ein Wespennest.

Colin Renfrew applaudierte: „Endlich, der Durchbruch.“ Andere Archäologen und Sprachwissenschaftler sahen indes mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. „Bei der vergangenen Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft in Kopenhagen wurde die Studie mit einer Mischung aus Unverständnis und Belustigung aufgenommen. Die Leute lehnten sie einhellig ab“, sagt Axel Metzger. Er bezweifelt, dass sich Sprachwandel mit Virenvariationen vergleichen lässt. „Die Forscher um Quentin Atkinson gehen davon aus, dass sich Sprachen mit konstanter Geschwindigkeit änderten, ähnlich der Mutationsrate eines Virus“, sagt Metzger. Das sei aber nicht der Fall: Sprachen können sehr stabil sein, wenn ihre Sprecher beispielsweise isoliert leben wie in Island oder wenn sich einflussreiche soziale Schichten der Sprachgemeinschaft wie etwa der Priesterstand der Bewahrung einer „richtigen“ Sprechweise verschrieben haben. Andererseits gebe es auch Phasen heftigen Wandels, etwa durch Migration oder die Ausbildung neuer Eliten, deren Sprache dann zur Norm werde.

Auch der Berliner Indogermanist Michael Meier-Brügger ist skeptisch: Die neue Studie von Atkinson arbeite sich schematisch an Vokabellisten ab und berücksichtige weder archäologische Funde noch linguistisch-kulturelle Bezüge. In den altgriechischen Worten Nikolaus („jemand, der ein Heer besiegt“) und Andromache („jemand, der Männer bekämpft“) stecke zum Beispiel eine Kriegerideologie. Meier-Brüggers Fazit: ein Ausgangpunkt bei kriegerischen Hirtenvölkern oberhalb des Schwarzen Meeres liegt nahe. Anatolien mit seiner friedfertigen bäuerlichen Kultur passt da nicht ins Bild.