Neues Leben rund um den Wahrheitsberg: Das Literatur-Festival in Ascona hat sich auf die Suche nach den Orten der Utopie gemacht. In dem restaurierten Museumskomplex auf dem Monte Verità erinnert eine Ausstellung an den Ursprungsstätte alternativer Lebensentwürfe.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eigentlich haben Utopien ihren Sitz im Kopf, und die Orte, die die moderne Hirnforschung als ihren mutmaßlichen Ursprung benennen würde, findet man auf keiner Landkarte. Doch vielleicht hat das, was über unsere Wünsche, Sehnsüchte und Ideen regiert, seinen Sitz ja doch ganz woanders, zum Beispiel in der Brust. Und damit hat man die zum Wesen der Utopie gehörige Ortlosigkeit schon beinahe überlistet. Denn die Brüste der Wahrheit lassen sich genau lokalisieren: im Tessin oberhalb des Lago Maggiore, wo eine sanfte Erhebung anfangs des letzten Jahrhunderts Legionen von Geistmenschen derart den Kopf verdreht hat, dass sie ihre Kleider ablegten und zu Körpermenschen wurden, die in heiliger Unschuld das paradiesische Leben probten. Sie tauften jenen Hügel Monte Verità, kultivierten Gemüse, badeten im Licht, frönten der freien Liebe und brachten eine ganze Reihe von Ideen in die Welt, die von utopischen Kopfgeburten zu reformerischen Alltagsbegleitern heranwuchsen: Rohkostfreunde, Umweltbewegte, Ausdruckstänzer, Hippies aller Art.

 

„Die Brüste der Wahrheit“ hat der Impresario, Autor und Universalgelehrte Harald Szeemann seine legendäre Ausstellung genannt, die Ende der siebziger Jahre den vor sich hin gammelnden Traum vom besseren Leben in einer Art kuratorischem Erinnerungskunstwerk wachgeküsst hat. Das Wissen über den modernen Gemeinschaftsmythos verdankt sich in wesentlichen Teilen den Tausenden Fotos, Dokumenten und Trouvaillen, die Szeemann nach dem ihn leitenden Bild der vielbrüstigen Göttin der Fruchtbarkeit organisierte: Sechshundert verschiedene Viten von Menschen, die auf und um den Berg der Wahrheit herum ihre gesellschaftlichen, religiösen und naturnahen Lebensentwürfe zu leben versuchten, sechshundert oftmals exzentrische Wege zum Paradies verteilte er auf vier Brust-Kapitel, die die Bereiche Anarchie, Lebensreform, Psyche und Kunst mit ihrem Strom der Weisheit nährten.

Frischer Lack und alte Ideen

Der Ausstellung ging es nicht anders als dem, was sie dokumentierte: Sie verfiel, wurde zerstreut und selbst zum Gegenstand der Erinnerung. Doch nun schießt wieder Leben in die vertrockneten Inspirationskanäle. Seit fünf Jahren schickt der Berliner Literaturermöglicher Joachim Sartorius in jedem Frühling mit dem Festival „Eventi Letterari di Monte Verità“ illustre Namen auf utopische Spurensuche, die in weit gefassten thematischen Kreisen vier Tage lang die wuchernde Ideenwildnis sondieren. Und so konnte man in diesem Jahr unter den neugierig durchs Gelände Streifenden etwa auf den österreichischen Schriftsteller Christoph Ransmayr stoßen, der in dem mittlerweile restaurierten kurvig kantenlosen Gründerhaus der Casa Anatta die nun wieder dort versammelten Stücke der Szeemann-Ausstellung betrachtet. Im nächsten Monat soll die Schau sorgfältig rekonstruiert dem Publikum wieder zugänglich gemacht werden.

Alles riecht nach frischem Lack. Und an den Wänden des sanft geschwungenen Reformbaus schmiegen sich in enzyklopädischer Fülle, sauber faksimiliert, die von Szeemann gehorteten Exponate. Doch in der musealisierten Stillstellung lässt sich die einstige kuratorische Wildheit nur noch ahnen. Beinahe großväterlich wirkt die in Bild und Text gebannte Montage bärtiger Anarchisten, tanzender Nackedeis, tiefgründelnder Archetypiker, deren sonnenradähnliche Symbole den Betrachter bisweilen böse vertraut anfunkeln.

„Die Sehnsucht nach dem besseren Leben steht hier in nächster Nähe zu der bis dahin größten erlebten Katastrophe“, sinniert Ransmayr vor der tiefenpsychologischen Bildwand einer Eranos-Tagung des Jahres 1933. „Der Möglichkeit des Paradieses wohnt auch die der Barbarei inne, und es ist nicht immer leicht zu sagen, wo das eine aufhört und das andere beginnt.“

Spirituelle Exaltationen

Auch Lenin wie nahezu jeder, dessen Name in der Kulturgeschichte der Zeit eine Rolle spielt, soll hier oben zu Gast gewesen sein. Unweit der Casa Anatta träumt in frischem Blau das sogenannte Russenhaus still vor sich hin. Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch wird bei ihrer Lesung später den Opfern der größten aller utopischen Experimente Stimme verleihen. Aus dem neuen Mensch ist der Homo sovieticus geworden, dessen kollektive Denkmuster Kommunismus und Perestroika ebenso getragen haben wie die lupenreinen Demokraten, die darauf folgen.

Vor knapp vierzig Jahren hat Ransmayr die damals noch neue Szeemann-Schau schon einmal erlebt und darüber einen Bericht geschrieben, der mit den Worten beginnt: „Dem Paradies bleibt immer nur die Zukunft.“ Beim Wandel durch die frisch gestrichene und herausgeputzte Gedächtniswelt früherer Aufbrüche erlebt man das Paradies eher im Modus der Vergangenheit. Unvermutet freilich blitzen in der Gegenwart Szenen auf, die die spirituellen Exaltationen früherer Tage in nächste Nähe rücken. Ransmayr, der gerade einem Gesprächspartner das Paradox erläutert, etwas einfrieren zu wollen, das davon lebt, immer in Bewegung zu sein, wird unversehens vom Mikrofon einer verzückten Journalistin gestellt, und die Weise, in der sie seine Worte förmlich aufsaugt, spielt die Metaphorik von der Brust der Wahrheit in das Gebiet der unmittelbaren Anschauung hinüber.

Vom Glück des Schwebens

Propheten und Gläubige – an der säkularisierten Form dieses Verhältnisses partizipiert dieses Literaturfestival, auch wenn die meisten Veranstaltungen aus finanziellen Gründen seit zwei Jahren von dem wunderschönen Bauhaushotel, das seit 1928 mit seinen klaren Formen den obskuren Wahrheitsberg überragt, in ein luftiges Zelt am Ufer des Sees verlegt wurden. Aus dem sagenhaften Magnetfeld, das dem Ort nachgesagt wird, hat man sich damit zwar etwas herausbewegt, doch ist die Magie des Frühlings und des von weiß bestäubten Bergketten eingefassten Sees immer noch groß genug, um irdische Paradies-Anwandlungen zu wecken – oder einfach Urlaubsgefühle, wie sie die hochschwangere Autorin Olga Grjasnowa beim Blick über den glitzernden Lago Maggiore verspürt. Dabei wurde sie mit ihrem jüngsten Flüchtlingsroman als Sachverständige für die denkbar nüchternste und traurigste Form der Sehnsucht eingeladen: die Sehnsucht derer, die nichts treibt als der Wunsch, das nackte Leben zu retten, deren Aufbruchsort die syrische Hölle ist, deren Ziel Europa.

„Orte der Utopie“ ist der Titel des diesjährigen Veranstaltungsparcours. Und so wird das wie ein Ufo in der vorösterlichen Gelassenheit Anconas gelandete Zelt zum Ausgangspunkt diverser Reisen durch Zeit und Raum. Mit Blick auf die Brissago-Inseln, wo reiche Industrielle einst Kulte der ewigen Jugend feierten, erzählt Ransmayr vom Kampf gegen die Vergänglichkeit, den der Londoner Uhrmacher Cox seines gleichnamigen Romans mit dem Herrn der Zeit, dem chinesischen Kaiser Quianlong, ausficht. Ebenfalls ins Land der Mitte führt eine Begegnung, die der weltenbummelnde Österreicher in seinem „Atlas eines ängstlichen Mannes“ verzeichnet. Auf der Chinesischen Mauer kommt er mit einem britischen Ornithologen ins Gespräch, der die Idee eines tönenden Schutzwalls entwickelt, nach dem Beispiel der Vögel, die ihr Revier allein mit Gesang abgrenzen: Tonfolgen, Gezwitscher statt zinnenbewehrter Mauern. Man denkt unweigerlich an den twitternden amerikanischen Präsidenten, dessen geplante mexikanische Mauer sich unter diesen Umständen nur noch halb so bedrohlich ausnehmen würde.

Die dunkle Schwester der Utopie

Grenzüberschreitung gehört zum Wesen des utopischen Denkens. Die vermutlich weiteste Reise unter den Gästen des Festivals hat der Astronaut Umberto Guidoni hinter sich gebracht, der von seinen beiden Reisen ins Weltall erzählt. Als erster Europäer setzte er 2001 den Fuß in die internationale Raumstation ISS. Nun plaudert er vom Glück und von der Freiheit des Schwebens, die jedem erlaube, seinen Aufenthaltsort im Raum frei zu bestimmen. Leider gilt das für alle Teile der menschlichen Existenz, auch die, die man genötigt ist, hin und wieder von sich abzuscheiden. Und so ergänzt Guidoni die emphatischen Eindrücke vom Anblick des Blauen Planeten, der von da oben erst in seiner ganzen Schönheit und Schutzbedürftigkeit in Erscheinung trete, durch die nüchterne Beschreibung der Funktionsweise einer Weltraumtoilette.

Orte der Utopie hören auf, solche zu sein, sobald man sie erreicht hat. Hartnäckiger behauptet sich im Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit die dunkle Schwester der Dystopie. Während Assads Welt, wie die mit einem Syrer verheiratete Olga Grjasnowa sie in ihrem Roman „Gott ist nicht schüchtern“ beschreibt, in ihrem fantastischen Grauen immer realer wird, löst sich für die Flüchtlinge die Utopie Europa immer weiter auf.

Schiffbruch der Ideen

Viel ist vom Schiffbruch der Ideen an der Wirklichkeit die Rede. Doch es geht auch anders. Wie ein Wesen aus einer anderen Sphäre erscheint eines Abends der weißbärtige Alberto Manguel an den Gestaden des dunklen Sees. Die freie Liebe, die er zu Büchern pflegt, hat ihm den Beinamen Don Juan der Bibliothek eingetragen. Er war der Vorleser von Jorge Luis Borges, dem blinden Herrscher über die Argentinische Nationalbibliothek, die Manguel heute selbst leitet.

Manguel spricht über den Grenzverkehr zwischen den fantastischen Landschaften der Literatur und der Wirklichkeit. Und irgendwie führt auch das auf die Brüste der Wahrheit zurück. Als Kolumbus zu seiner Entdeckungsreise aufgebrochen sei, habe er als Leser von Aristoteles, Plinius und mittelalterlicher Bestiarien schon ziemlich genau gewusst, was er zu erwarten habe. Einmal begegnete er drei Seekühen und notierte in sein Tagebuch: „Heute sah ich drei Meerjungfrauen, aber sie sind nicht halb so schön wie immer behauptet.“