Eine WG-Party der besonderen Art: Beim „Zwischenmiete-Festival der jungen Literatur“, veranstaltet vom Literaturhaus, haben sich am Wochenende Nachwuchsautoren aus der ganzen Republik in Stuttgarter Wohngemeinschaften präsentiert. Da drängeln sich die jungen Leute.

Stuttgart - Schriftsteller rauchen und trinken Whisky, habe er sich einst gedacht. „Dann fange ich eben auch damit an.“ Senthuran Varatharajah sitzt vor einer blauen Schachtel Gauloises und einem aufgeschlagenen Buch. „Vor der Zunahme der Zeichen“ heißt sein Debütroman, erschienen 2016 und bereits mehrfach preisgekrönt. Für seine inzwischen siebzigste Lesung ist Varatharajah, Jahrgang 84, am Freitagabend zu Gast an einem ungewöhnlichen, weil privaten Ort: in einer WG in der Stuttgarter Innenstadt. In der großen Altbauwohnung haben sich die Gäste – größtenteils zwischen 20 und 35 Jahre alt – auf bunten Kissen und Decken niedergelassen, in der Küche stapeln sich Bierkisten, Pizzakartons und Tüten mit frischen Brezeln. Zum zweiten Mal findet in diesem Jahr das „Zwischenmiete“-Festival des Literaturhauses Stuttgart statt, das sich mit Lesungen, Wettbewerben, Workshops und Slams an unkonventionellen Plätzen vor allem an ein junges Publikum richtet.

 

Varatharajah, geboren in Sri Lanka, macht mit seinem Roman über Flucht und Ankommen in einem fremden Land den Auftakt. Er liest mit gedämpfter Stimme, aus der Küche ist leises Geklapper zu hören, zwischendurch klingelt ein Nachzügler an der Tür. Wie er sich gefühlt habe, als er 2014 zu den berüchtigten Literaturtagen nach Klagenfurt eingeladen wurde, fragt die Moderatorin im anschließenden Gespräch. Varatharajah lehnt sich zurück: „Ich fand diese Veranstaltung schon immer furchtbar,“ sagt er unbeeindruckt. „Das Antrittsgeld habe ich in neue Speaker investiert.“ Es ist eine von vielen Aussagen dieses jungen Autoren und Philosophie-Studenten, die erstaunen. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ gehörte schon immer auf seinen Schreibtisch, erzählt er, das Werk habe ihn ebenso geprägt wie die Schriften Heideggers und Adornos. Deutsch sei ähnlich zart wie das Altgriechische, einige Philosophen halte er für wahre Größen, andere für verachtenswert. Trotzdem bleibt es das unpersönlichste Gespräch an diesem Wochenende.

Eine halbe Stunde später hat die Luxemburgerin Nora Wagener, Jahrgang 89, den Platz im Wohnzimmer eingenommen. Sie stellt ihr viertes Buch „Larven“ vor, eine Sammlung kurzer Geschichten in Tagebuchform. Einige der Zuhörer sind geblieben, viele Neue dazugekommen. Wagener erzählt von der Entstehung ihrer Geschichten, schwärmt von der Sprache an sich und von einzelnen Worten im Deutschen. „Aber das Luxemburgische hat auch was: Da kann man so herrlich fluchen!“

In der Küche gibt’s das Bier und auf dem Balkon drängeln sich die Raucher

Die Stimmung ist gelöst, in der Küche werden neue Biere geöffnet und auf dem Balkon drängeln sich die Raucher. Die beiden Autoren mischen sich unter die Gäste, überall wird geredet und diskutiert: über französische Philosophie und Geschlechterrollen, aber auch über Basketball und Mäuse in der Abstellkammer. „So ein entspannter Rahmen ist genau das, was wir mit dem Projekt erreichen wollen“, sagt Nina Wittmann (27), die zusammen mit Friederike Ehwald (29) und Charline Medernach (26) für die Organisation des Festivals verantwortlich ist. „Es stimmt ja nicht, dass sich junge Leute nicht für Literatur interessieren. Aber das Stammpublikum bei klassischen Lesungen ist eben meist grauhaarig und über 50. Das ist einfach was anderes.“ Um dieses Format aufzubrechen, haben sich die drei Literatur-Studentinnen für das diesjährige Festival neben den ungewöhnlichen Lesungen auch ein Rahmenprogramm ausgedacht. Zum Ausklang des ersten Abends ist das Berliner Lyrikkollektiv G13 mit einer Performance zu Gast, für Musik sorgt ein DJ. Die letzten Gäste verlassen die WG weit nach Mitternacht.

Gleich am nächsten Morgen geht es weiter. Fünf junge Lyriker, vier Frauen und ein Mann, haben sich im Café Holzapfel in Stuttgart zusammengefunden, um dem bunt gemischten Publikum ihre noch unveröffentlichten Texte zu präsentieren. Im Vorfeld des Festivals hatte das „Zwischenmiete“-Team einen bundesweiten Wettbewerb ausgerufen, die Texte der Gewinner werden im Herbst im Literaturmagazin „Poet“ erscheinen. Es ist ein vielseitiges Bild, das sich in den kurzen Lesungen an diesem Samstagmorgen entfaltet: Neben ruhigen, zärtlichen Tönen über Liebe, Sehnsucht und Schmerz stehen Texte, die vor allem durch Humor und Selbstironie bestechen. Sie alle verbindet das feine Spiel mit der Sprache.

Im Bücherregal steht Sloterdijk neben Che Guevara

Am Abend steht die nächste WG auf dem Programm. An den Wänden hängen Poster und Zeitungsartikel, im Bücherregal steht Sloterdijk neben Che Guevara. In einer kleinen Kiste mit der Aufschrift „Zu Verschenken“ liegt eine angebrochene Packung Nikotin-Pflaster, die keiner haben will. Etwa achtzig Gäste fläzen sich dicht an dicht auf Sofas, Matratzen und dem Boden, ein junger Mann lässt die Füße aus dem Fenster baumeln. Der Lärmpegel ist hoch. Dann setzt sich der erste Autor des Abends an den kleinen Tisch inmitten der Zuhörer. Philipp Winkler hat mit „Hool“ einen Roman über die Hannoveraner Hooligan-Szene geschrieben, 2016 wurde er mit dem ZDF Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet. „Ein Buch wie ein Schlag“ schrieb die „FAZ“ damals, und tatsächlich ist es die Wucht der harten, oft derben Dialoge in „Hool“, die den Roman so sehr von den feinziselierten Texten des Vorabends unterscheidet.

Schließlich ist der letzte Autor des Festivals an der Reihe. Sascha Macht, Jahrgang 86, studierte am Literaturinstitut Leipzig und veröffentlichte bereits in verschiedenen Anthologien und Literaturzeitschriften. „Der Krieg im Garten des Königs der Toten“ erzählt von der Reise des Protagonisten Bruno Hidalgo über die fiktive Insel Kajagoogoo, 2016 wurde der Roman als bestes Prosadebüt des Frühjahrs mit dem Silberschweinpreis ausgezeichnet.

Ein Werkstattgespräch mit Kathrin Jira sowie ein Poetry Slam am Sonntag sollten noch folgen – doch bereits an diesem Punkt des Festivals stand fest: Das Projekt „Zwischenmiete“ bietet eine ebenso erfolgreiche wie spannende Plattform für den literarischen Nachwuchs, sorgt für Austausch und Kommunikation. Junge Menschen interessierten sich heute weniger für Literatur, sagen die Zahlen. Ein Hauch von der legendären Gruppe 47 aus der Nachkriegszeit aber lebt weiter.