Im Stuttgarter Literaturhaus haben sich prominente Schriftsteller einem Tabu der Moderne gewidmet: Bei dem dreitägigen Festival „Scheitern“ zeigen sie alle Facetten des menschlichen Misserfolgs, tragische wie komische.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Im Dämmer eines Büros graben sich zwei Wesen immer tiefer in die Routinen ihrer Arbeit, sie variieren eingespielte Abläufe, wispern und rascheln sich durch die Schreibtischniederungen ihrer papiernen Existenz, als würde man zwei Hamstern bei ihrem nächtlichen Treiben beiwohnen. Irgendwann kommt der Chef und bereitet dem Werktätigenspuk ein Ende. Naht nun das große Gericht?

 

Worauf auch immer die beiden Solitude-Stipendiaten Camille Durif-Bonis und Néstor Garcia Diaz in ihrer Eröffnungsperformance zielten: falsch machen kann man bei einem dem Scheitern gewidmeten Festival eigentlich nichts. So oder so wird man dem Thema auf jeden Fall gerecht: auf dem Weg theoretischer Durchdringung oder gleich im praktischen Vollzug. Und zwischen diesen Polen spannt sich auch das Programm, das die Chefin des Stuttgarter Literaturhauses, Stefanie Stegmann, zusammen mit ihren Mitstreiterinnen Kathrin Hartmann und Ann-Christin Boley vielleicht gerade in jenem merkwürdigen Performancebüro entwickelt haben mit dem Ziel, dem Misserfolg die Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, die er verdient. Und eines wird nach den Lesungen und Diskussionen des Wochenendes deutlich: Scheitern steht nicht nur am Ende trauriger Geschichten, es kann auch aller Geschichten Anfang sein, zumindest derer, die es wert sind, erzählt zu werden.

Wann ist eine Existenz verkracht?

An der Hand ausgewiesener Experten des Fehlgehens führt jeder der an drei Tagen demonstrativ beschrittenen Irrwege geradewegs ins Zentrum, wo die Tragödien und Komödien des Lebens spielen. Das ist kein wohlfeiler Spaziergang, wie die blühende Ratgeberliteratur glauben machen will, die Ertüchtigung durch Misserfolg gerade als neue Trendsportart entdeckt. Man muss sich aber auch nicht gleich erschießen, angesichts des unsicheren Grundes unter unseren Füßen.

Glücklich, wer ein Koalabär ist!

Wer entscheidet überhaupt, wann ein Leben als verkracht gelten muss? Der Chef? Das Jüngste Gericht? „Niemand hat das Recht, ein Leben zu beurteilen“, sagt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho, „wenn ich es kann, bin ich schon tot“ – und gerade war bekannt geworden, dass der jüngst verstorbene Publizist Fritz J. Raddatz, der zu Lebzeiten das Recht auf Suizid verteidigt hat, die Dienste der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas in Anspruch genommen hat. Die „Neue Sichtbarkeit des Todes“ ist der Titel eines Buches von Thomas Macho, und zu dieser Sichtbarkeit zählt auch der Selbstmord.

Das Glück des Koalabärs

Mit dem Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss liefert er sich auf dem Podium ein anregendes Totengespräch. In seinem Roman „Koala“, den Bärfuss dem Suizid seines Bruders abgetrotzt hat, stellt der Erzähler fest, dass sein ganzer Bekanntenkreis von ähnlichen Erfahrungen betroffen ist: „Selbstmord war ein ordinärer Tod, verbreitet wie Kurzsichtigkeit.“ Es sei eine Art ultimativen Schmollens, sagt Bärfuss. Man könne wohl das Recht am eigenen Tod feiern, aber in Wirklichkeit habe man es doch längst an der Portiersloge der modernen Medizin abgegeben: „Die Leute sterben heute nicht mehr von selbst, man muss eine Entscheidung treffen. Der Moment des Todes ist zu einer Angelegenheit der Lebensgestaltung geworden.“ Oder wie Macho ergänzt: „Der Mensch wird zum Autor seines Sterbens.“ Nicht einmal im Grab habe man seine Ruhe vor der Dynamik der Leistungsgesellschaft, deren rationale Sinnstiftungsgeschäftigkeit alles Tödlichen Anfang sei.

Wie gut hat es da der Koalabär! Seit 250 000 Jahren hängt er in arglosem Stumpfsinn in den Bäumen, zufrieden mit sich selbst und dem giftigen Eukalyptus, der ihm als Nahrung dient.

Soziologie als Monologie

Tief dagegen kann man in unserer Gesellschaft fallen. Thomas Melle beschreibt es in seinem Roman „3000 Euro“. Am Samstag sitzt Melle auf dem Podium mit dem Soziologen Sighard Neckel. „Schriftsteller wird nur, wer ein Problem mit dem Scheitern hat“, sagt Melle. Mit Blick auf sein Gegenüber ist man versucht hinzuzufügen: Soziologe wird nur, wer ein Problem mit dem Zuhören hat. Jedenfalls verabschiedet sich Neckel alsbald aus dem Gespräch in einen am Stehpult absolvierten Monolog. Seine rhetorische Selbstbehauptung vollzieht dabei anschaulich, wovon sein Referat handelt: Wettbewerb, Konkurrenz, Ehrgeiz als Normen einer alltäglichen Praxis, in der die Gefahr des Scheiterns allgegenwärtig wird. Melles verbale Handlungsmöglichkeiten sinken angesichts der Kathederisierung des agilen Dozenten auf den absoluten Nullpunkt. Just so bestimmt Neckel das Scheitern. Was der Auftritt als Gespräch schuldig bleibt, leistet er – und jeder im Literaturhaus sieht es – als Performance.

Rakete ohne Fehlstart

Die vermeintliche Randexistenz ist also längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das Institut zur Aneignung und Nachhaltigkeit des Scheiterns, das Hildesheimer Kulturwissenschaftlerinnen 2010 ins Leben gerufen haben, ist gewissermaßen das imaginäre Einwohnermeldeamt dieser geschlagenen Gesellschaft. Mit dem spröden Charme eines kleinen Stasi-Archivs werden hier Berichte alltäglicher Systemabstürze sauber nach schlauen Kriterien systematisiert. Hier findet jeder sein Malheurchen.

Und Genazino schwelgt in Niederlagen

Keiner aber scheint am Scheitern so viel Spaß zu haben wie der Schriftsteller Wilhelm Genazino. Er gibt den Loser als Rampensau und liefert sich mit der raketenhaft durchgestarteten Debütantin Karen Köhler ein begeisterndes Doppel.

Genazino schwelgt in seinen „völlig missglückten“ schriftstellerischen Anfängen. Öffne er heute noch gewisse Schubladen, ströme daraus ein süßer Duft des Scheiterns. Karen Köhler kann sich über den Erfolg ihres Erzählbandes „Wir haben Raketen geangelt“ eigentlich nicht beklagen. Dennoch beschreibt sie plastisch das Dilemma, das durch den Anpassungsdruck an den Markt entsteht: „Man scheitert, wenn man sich nicht zu sagen traut, was man zu sagen hat; man scheitert aber auch, wenn man nicht gelesen wird.“

Schriftsteller verausgaben sich im Exzess der Wahrheit. Die anderen schauen zu, ohne sich selbst der Gefahr aussetzen zu müssen. Dafür gibt es schließlich Literaturhäuser. „Immer wieder ist ein Gescheiterter da und zieht die Sache von Neuem auf“, sagt Genazino – Autoren wie Robert Walser, Italo Svevo oder Joseph Roth, deren Niederlagen er in kurzen Texten hochleben lässt (siehe unten). Was bleibe anderes übrig, „als in Ruhe und Frieden auf die schreckliche Zuspitzung des Lebens zuzuwanken“. Bei der Produktion solch düsterer Einsichten wirkt Genazino zufrieden wie ein Koalabär. Solange er zu solchen Sätzen fähig ist, muss er um seinen Erfolg nicht bangen.