Das Literaturmuseum der Moderne in Marbach macht sich in einer Ausstellung auf die Suche nach dem „Wert des Originals“. Auf fünf Räume verteilen sich hundert Ausstellungsstücke, die das Bedeutungsfeld des Originalen in vielfältige Facetten aufsplittern.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wie anfangen? Mit dieser Frage schlägt sich schon Goethes Faust in seinem Studierzimmer herum, W. G. Sebald beginnt seinen Roman „Die Ausgewanderten“ mittendrin, mit zwei später komplettierten Satzfragmenten, und Ernst Jünger eröffnet einen Notizblock mit der lapidaren Ansage „Chaos und Schicksal“ – das war’s, der Rest bleibt leer. Wie also anfangen? Am besten ab ovo, welche Wendung nichts anderes besagt, als dass man zum Verständnis der ganzen Verwicklungen und Schicksale, die das Leben der Menschen erst einzigartig und erzählenswert machen, an den Anfang zurückkehren muss – zu jenem Ei der Leda, aus dem die schöne Helena geboren wurde, deren Raub wiederum der Anlass jener großen uranfänglichen Geschichten um den Trojanischen Krieg gewesen ist – und allem, was bis heute daraus folgte.

 

Den Katalog der neuen Ausstellung im Marbacher Literaturmuseum der Moderne, die der Frage nach dem „Wert des Originals“ nachgeht, ziert ein Ei. Das Deutsche Literaturarchiv hat sich gleichsam seines Anfangsgrundes entsonnen und die Idee des Originals, der es sich schließlich verdankt, so sorgfältig bebrütet, dass daraus eine der anregendsten und schillerndsten Ausstellungen der letzten Jahre geschlüpft ist. Auch deshalb, weil sie der Gefahr, dass ausgestellte Texte hinter Glas einander gleichen wie ein Ei dem anderen auf originelle Weise entgeht.

Die Wege zum Echten sind weit und vermittelt

Wie verträgt sich nun die Einzigartigkeit des Originals mit der absoluten Verwechselbarkeit, für die die Ursprungsform des Eies steht? Oder anders gefragt: Was ist ein Original? Zum Beispiel jemand,  der im chronischen Schnaps- und Schnupftabakrausch auf einem Dreirad durch die Stadt eiert. Damit beginnt die Begriffserkundung dieser Schau: mit jenem Vehikel, das der Begriffszerrütter Karl Valentin einem stadtbekannten Münchner Sonderling abgeschaut und nachgebaut hatte, sozusagen die Kopie eines Originals durch ein anderes. Ein weiteres Original stand einmal auf dem Marktplatz von Athen, die Statue des Tyrannentöters Aristogeiton; zu sehen ist der Gipsabguss des Bruchstücks eines römischen Abgusses der griechischen Bronzefigur.

So weit und vermittelt können die Wege zum Echten und Anfänglichen sein. Doch gerade in Zeiten der absoluten digitalen Reduplizierbarkeit der Welt lohnt es sich, sie zurückzulegen, selbst dann, wenn sie ins Ungewisse führen. Denn mit kostbaren Preziosen aus den Schätzen des Archivs wird hier die Originalitätssehnsucht einer individualitätskonformen Gesellschaft nicht leichthin abgespeist. Einige berühmte Exponate wie die Emser Depesche, deren radikalisierender Zuschnitt durch Bismarck 1870 den Deutsch-Französischen Krieg herbeiführte, oder Goethes „Urfaust“ sind nur als Faksimile präsent. Dafür verstrickt das Kuratorenduo Heike Gfrereis und Ulrich Raulff den Betrachter in ein kluges Spiel, das die Suche nach der Sache selbst immer wieder aufschiebt und über sich hinaustreibt.

In jedem Original steckt die Fälschung

Auf fünf Räume und zehn Vitrinen verteilen sich hundert Ausstellungsstücke, die das Bedeutungsfeld des Originalen in vielfältige und widersprüchliche Facetten aufsplittern: von den eingangs erwähnten Schwierigkeiten des Anfangens bis zu den Sinnschöpfungen der Wiederholung, durch die Mörike sein Gedicht „Gebet“ über Jahrzehnte hinweg in immer wieder unterschiedliche Kontexte schleust. Man sieht W. G. Sebald beim Proben der Handschrift seines erfundenen Helden zu, und Rilke, wie er sich auf Anraten seiner Muse Lou Andreas-Salomé ein männlicheres Schriftbild verpasst, samt neuem Namen, Rainer statt Réné. Was als Unverfügbares erscheint, ist in Wirklichkeit das Produkt einer kalkulierten Herstellung, selbst wenn es sich um die „écriture automatique“ von Holzwürmern handelt, deren Gänge Mörike mit roter und grüner Farbe nachgemalt hat, um damit das Andenken an ein junges Mädchen zu signieren. Wie im Holz der Wurm, steckt schon in jedem Original die Fälschung.

Echtheitszauber aber wohnt nicht nur dem Anfang, sondern auch dem Ende inne: das Original wird hier zur Reliquie, Kants Tabakdose hat den leidenschaftlichen Pfeifenfreund ebenso überlebt wie  Oskar Pastiors Zigarettensammlung ihren Besitzer. Zwischen Reliquie und Requisit changiert das Modell der Steinschlosspistole, mit der Heinrich Kleist den Doppelselbstmord von sich und seiner Bekannten Henriette Vogel inszenierte, in Posen, die ein französisches Gemälde zitieren.

Die schönsten Exponate sind unsichtbar

Eine Vitrine mit Handabgüssen reimt Authentizität auf Eigenhändigkeit, darunter eine der eisernen Handprothesen Götz von Berlichingens. Aus einer anderen blicken Toten- und Lebendmasken dem Besucher nach, der nun auf einem waghalsig etymologischen Grat von den Besitzenden zu den Besessenen ins Geisterreich geleitet wird: zu Hölderlins Schreibtisch und der Maultrommel, mit der Justinus Kerner die verwirrten Gemüter des Ludwigsburger Irrenhauses zu besänftigen verstand. Eine andere Therapie verfolgte Freud, ein Kissen seiner Couch erinnert an den Ort jener Gesprächskur, die den Grundtext der Seele aus Entstellungen und Widerständen frei zu legen versuchte.

Die schönsten Originale aber sind die, die vom Erdenrest der Existenz befreit sind. Ihnen ist der letzte Raum gewidmet: Schillers verlorener Schädel gehört dazu, der Heilige Gral, den eine getrocknete Fledermaus aus der Kathedrale von Laon vertritt, das verschollene Manuskript eines autobiografischen Romans von Heinrich Kleist oder die Aktentasche Walter Benjamins, die sein wichtigstes Manuskript enthalten haben soll und bis heute als verschollen gilt. Mit dieser Feier des Unsichtbaren hat die Ausstellung endgültig den Marbacher Seinsgrund untergraben, allerdings auf so profunde Weise, wie sie nur der intime Umgang mit den Bedeutungstrümmern des Echten und Authentischen gewährleisten kann.

Poststrukturalistisches Augenzwinkern

San Pellegrino genießt unter den Mineralwässern einen besonderen Ruf. Auf einem kleinen Werbezettel dafür hat Walter Benjamin notiert, wie es sich mit der Aura einer Erscheinung verhält: es bedeute, sich ihres Vermögens innezuwerden, einen Blick aufzuschlagen. Diese Ausstellung wendet sich dem Betrachter zu. Die Dinge, die sie ausbreitet, schlagen den Blick auf, wenn auch mit einem poststrukturalistischen Augenzwinkern.

Was also ist es wert, das Original? Jenen Scheck über 1000 Küsse, den Gottfried Benn seiner Geliebten ausstellt? Die 4000 Francs, deren Erhalt der Bankrotteur Richard Wagner auf einem Schuldschein quittiert? Die Briefmarken und Poststempel auf Kafka-Briefen, die einmal kostbarer schienen als ihr Inhalt? Wert ist in diesen Tagen auf jeden Fall ein Besuch in Marbach.