Bei einer sogenannten Klingeltour hatten Teilnehmer am Wochenende die Möglichkeit, an ausgewählten Klingeln zu läuten un sich von den bewohnern über die Gegensprechanlage unterhalten zu lassen.

Stuttgart - Das Bild ist ungewöhnlich und im ersten Moment befremdlich: mehrere Personen stecken ihre Köpfe vor dem Lautsprecher der Gegensprechanlage eines Mehrfamilienhauses zusammen und lauschen aufmerksam, was ihnen ein Bewohner erzählt. In der Calwer Straße ertönen nach dem zuvor genannten Codewort „Stadtherzen“ Klavierklänge. Am Eingang einer Immobilie am Rotebühlplatz erfahren die Klingeltourteilnehmer, von den Sprechern, dass die Bewohner in den Wohnungen über und unter ihnen mitunter rauschende Feste feiern. Und in der Sophienstraße werden die Klingelnden akustisch mal mit spannender Stadtmitte-Lyrik, mal mit Daten und Fakten zur Geschichte der Kehrwoche gefüttert und dem am Ende lachreizend präsentierten Fazit: „Putzen macht keinen Spaß.“

 

Eher Konsumkritisches bekommen die Klingelnden am Eingang eines Gebäudes an der Torstraße zu hören. Dort hinterfragt der Sprecher, wie sinnhaft es sein mag, sich im nahe gelegenen neuen Shoppingcenter Gerber dem Warenrausch hinzugeben und fleißig den Geldbeutel zu öffnen.

30 bis 40 Neugierige sind in der City unterwegs

Auf Einladung von Arttour Stuttgart und der Künstlerin Anna Ohno haben sich am Samstagnachmittag ab dem Rotebühlplatz zwischen 30 und 40 Neugierige auf den Weg gemacht, um an zwölf Türen von Mehrfamilienhäusern zu klingeln und sich unterhalten zu lassen. „Es kann alles Mögliche passieren“, sagt Ohno augenzwinkernd vor dem Start zu der kurzweiligen Tour. Schließlich hat sie den Teilnehmern, die ihre Klingel und Zeit zur Verfügung stellen, freie Hand gelassen, wie sie den unbekannten Besuchern vor ihrer Haustüre akustisch begegnen wollen. „Es gab von mir für die Teilnehmer keine Vorgaben“, erklärt Anna Ohno ihr Projekt und freut sich am Ende, dass viele der akustischen Begegnungen mehr als nur Sprechen und Lauschen waren. „Nicht selten haben sich zwischen den Unbekannten auch gute Gespräche entwickelt“, ist Ohno zufrieden.

Mitstreiter wurden zunächst über Flyer gesucht

Mit Flyern hatte sie zunächst versucht, Mitstreiter für die ungewöhnliche Stadterlebnistour zu finden. „Doch die Resonanz war sehr verhalten“, sagt die Künstlerin. So machte sie sich selbst auf den Weg und klingelte an vielen Türen. Dabei stieß sie nicht immer nur auf positives Feedback. Das aber wundert die freie Künstlerin nicht: „Denn auch wenn man die Menschen, bei denen man klingelt, nicht sieht, so gibt doch jeder etwas ganz Persönliches, etwas Intimes von sich preis“, sagt Ohno. Am Ende ihrer Citytour hatte sie zwölf geeignete Stationen für ihre Klingeltour beisammen. Besonders reizvoll für Anna Ohno bis zum Schluss: die meisten der Teilnehmer kannte auch sie bis Samstagabend nicht. Erst bei einem Treffen nach dem Ende der Aktion lernten sich alle Beteiligten auch persönlich kennen.

Dass sich Ohno gerade Stuttgarts Stadtmitte für ihr Live-Art-Projekt ausgewählt hat, kommt nicht von ungefähr, „denn die City ist vielen nicht unbedingt als Wohnviertel bekannt“, sagt die Künstlerin. Nach dem gelungenen Start kann sie sich aber gut vorstellen, das Projekt auch in anderen Stadtvierteln zu realisieren. Dabei könnte einmal mehr der Titel „Stadtherzen“ zum Einsatz kommen, denn „die Menschen, die sich beteiligen, sollen sich ja zu etwas äußern, was ihnen am Herzen liegt“. Ob sie dabei einfach eine Meinung äußern, eine Frage stellen, eine Stimmung wiedergeben oder einen Wunsch formulieren, sei egal. Und: „Künstlerisches Können“, so formulierte es Ohno in ihrem Einladungsflyer an die potenziellen Teilnehmer, „ist hierfür keine Voraussetzung: Stadtherzen ist kein Dichterwettstreit“.

Vielfalt und Offenheit erlebt

Als einen solchen haben es auch die Teilnehmer nicht erlebt. Sie waren vielmehr von der großen Vielfalt und der Offenheit begeistert, die sie an den unterschiedlichen Türen erlebten. Die Mannigfaltigkeit der Beiträge ist es auch, die Anna Ohno zufreiden stimmt. „Ich habe ja nur eine Plattform geboten, genutzt haben diese die Innenstadtbewohner“, sagt Ohno. Dass zudem – mit Ausnahme einer Station – alle Teilnehmer drei Stunden lang, und teilweise sogar darüber hinaus, verfügbar waren, findet sie einfach Klasse. „Diese Verlässlichkeit der am Projekt Beteiligten hat mich wirklich sehr beeindruckt.“