Wie Nazitäter versucht haben, ihre Biografie zu schönen, zeigt der Blick in Meldebögen und Spruchkammerakten. Viele von ihnen liegen im Staatsarchiv Ludwigsburg. Der Archivar Peter Müller gibt Einblicke in das Fälschen.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Ludwigsburg - Der Österreicher Aribert Heim, der Schlächter von Mauthausen, kam durch. Ebenso wie Viktor Capesius, der aus Siebenbürgen kam und Apotheker des Vernichtungslagers Auschwitz war. Beide wurden zunächst entnazifiziert. Das Verfahren gegen Heim wurde aufgrund der Amnestieverordnung 1947 eingestellt. Und Viktor Capesius bekam attestiert, dass er „nicht belastet“ sei. Eilfertigst quittierten beide diesen Freifahrtschein in ihr neues Leben schriftlich. „Gegen den Spruch habe ich bei keiner Stelle Einspruch erhoben“, schrieb Capesius handschriftlich am 18. Dezember 1947. Einen Tag vor Weihnachten bestätigte die zuständige Behörde den Eingang dieses winzigen Zettelchens. Ähnlich verhielt sich Heim.

 

Diesen genauen Einblick in das Verhalten der beiden Nazigrößen verdankt die Nachwelt dem Aktenstudium durch Historiker. Im Staatsarchiv Ludwigsburg liegen die Spruchkammerakten von Heim und Capesius. Der Archivleiter Peter Müller hat am Dienstagabend in diesen und anderen Leben öffentlich geblättert. Im Rahmen der Reihe „Frisch entstaubt“ berichtete er darüber, wie Menschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Biografien fälschten, um im neuen Staat schnell wieder in lukrative Positionen zu kommen.

Die Hoheit über den eigenen Lebenslauf

Heims und Capesius’ Vorteil in den Entnazifizierungsverfahren: ihre Herkunft und ihr Einsatzbereich lagen räumlich weit entfernt von den zuständigen Spruchkammern. So lange niemand auftauchte, der das Gegenteil behauptete, hatten sie quasi unwidersprochen die Hoheit über ihren Lebenslauf. Papier ist geduldig. In den für alle verpflichtend auszufüllenden Meldebögen gaben beide zwar ihre Dienstgrade an. Was sie getan haben, schrieben sie nicht. Die obligatorische Anfrage der Spruchkammer beim „Berlin Document Centre“, wo die NSDAP-Mitgliederkartei zum Abgleich lag, erbrachte nicht viel mehr. Die Kartei verzeichnet zwar die Mitgliedschaft, nicht aber die Verwendung der NSDAP-Mitglieder.

Heim tauchte schließlich unter. Das LKA Baden-Württemberg fahndete jahrzehntelang nach ihm. Heim starb 1992 in Kairo als Dr. Tarek Farid, wie man heute weiß. 1997 erkannte ihm das Regierungspräsidium Stuttgart noch die Approbation als Arzt ab. Der Brief kam von einer Verwandten geöffnet von Heims letzter Baden-Badener Adresse zurück. Auch diesen grotesken Behördenversuch, wenigstens irgendetwas zu tun, dokumentieren die Ludwigsburger Akten.

Die Dokumente belegen die Verbrechen nicht

Capesius, der in Göppingen eine gut gehende Apotheke betrieb, wurde erst 1959 verhaftet und 1965 im Auschwitzprozess wegen gemeinschaftlicher Anstiftung zum gemeinschaftlichen Mord in vier Fällen an mindestens 2000 Menschen zu einer Haftstrafe von neun Jahren verurteilt.

Für Peter Müller sind beides eindrückliche Beispiele dafür, dass Forschende vorsichtig sein müssen, wenn sie es mit Dokumenten zur NS-Zeit zu tun haben. Im Fall Capesius belegten die vorliegenden Dokumente die Verbrechen nicht. Das konnten erst Jahre später Augenzeugen, die Capesius beim Selektieren an der Rampe von Auschwitz erlebt hatten.

Wie die Fälschung des Meldebogens aber auch auffliegen konnte, illustriert der Fall des Ulmers Bernhard Fischer-Schweder, der sein Geburtsdatum fälschte. Zudem nannte er sich in unterschiedlichen Dokumenten abwechselnd Fischer und Schweder. Der Kriminalbeamte wollte zurück in den Staatsdienst. Aber die Unstimmigkeiten fielen auf. Wiederholt ist das in den Akten vermerkt. Doch der Mann, der zur Einsatzgruppe Tilsit gehörte und die Erschießung von Juden in Memel angeordnet hatte, versuchte, sich immer wieder in Sicherheit zu bringen, korrigierte etwa sein Geburtsdatum in Behördenschreiben.

Als er gegen das Land Baden-Württemberg auf Wiedereinstellung klagt, beginnen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Auch in seinem Fall korrigieren Zeugenaussagen das Bild. Eine Frau erkennt ihn als den Mann wieder, der zu seinem Vergnügen sonntags ins Getto gegangen sei, um Juden zu erschießen. Im sogenannten Ulmer Einsatzgruppenprozess wird Fischer-Schweder 1958 zu einer Zuchthausstrafe von zehn Jahren verurteilt.

Was sagen diese Fälle über die Güte der Entnazifizierungsverfahren, wenn die Ahndung von Gräueltaten oft mehr als zehn Jahre auf sich warten ließ oder gar nicht erfolgte? Der Archivar Peter Müller ist überzeugt, dass durch sie „eine gesellschaftliche Tabuzone“ errichtet worden ist. Eine Hürde, die den Rückweg in den Alltag zunächst versperrte. Außerdem, das belegt der Blick ins Archiv, kommen die Akten der Wahrheit wohl desto näher, je weniger der Ort der Spruchkammer vom NS-Geschehen entfernt war. Müller warnt deshalb, das Vorgehen grundsätzlich zu verdammen. Es sei immerhin das erste seiner Art gewesen. Noch nie habe es Vergleichbares gegeben.