Henrik Uterwedde (66), stellvertretender Leiter des Deutsch-Französischen Instituts Ludwigsburg, geht zum Jahresende in Ruhestand. Der Wirtschaftsexperte, der seit 1974 am Institut war, spricht im Interview über Vorurteile und Annäherung über den Rhein hinweg – aber auch über kulturelle Unterschiede, die ihn bis heute überraschen.

Ludwigsburg - In Paris, Berlin und Brüssel ist das Deutsch-Französische Institut Ludwigsburg (DFI) bisweilen präsenter als in der Barockstadt. Schließlich ist der Rat der Experten bei den Regierungen wie bei den Medien beiderseits des Rheins sehr gefragt. Henrik Uterwedde (66), der bisherige stellvertretende Leiter und Wirtschaftsexperte des Hauses, tritt nun kürzer und blickt auf 40 Jahre im Dienst der deutsch-französischen Beziehungen zurück. Doch selbst im Ruhestand wird er dem Institut als Forscher erhalten bleiben.
Herr Uterwedde, als Sie im September 1974 ans DFI Ludwigsburg kamen, war Valéry Giscard d’Estaing französischer Staatspräsident, und Helmut Schmidt war deutscher Bundeskanzler. Wie haben Sie damals die deutsch-französischen Beziehungen erlebt?
Das war eine spannende Zeit. Mit dem Ölschock 1973/74 war es vorbei mit dem stetigen Wachstum. Giscard d’Estaing und Schmidt, beide Ökonomen, haben damals verstanden, dass die Krisen international sind und dass man in Europa eine gemeinsame Antwort finden muss. Deshalb riefen sie den Weltwirtschaftsgipfel ins Leben. 1978 kam dann das europäische Währungssystem, das die Wechselkurse in Europa stabilisiert hat. Das war fundamental neu. Giscard d’Estaing wurde allerdings 1981 abgewählt, unter anderem weil es in Frankreich mehr als eine Million Arbeitslose gab. Heute wäre man froh darüber: Jetzt sind es in Frankreich mehr als drei Millionen.
Wie hat sich die Nachbarschaft am Rhein seitdem aus Ihrer Sicht entwickelt?
In den 60er Jahren ging es unter De Gaulle und Adenauer noch vor allem um Außenpolitik und um Aussöhnung. Es gab große Gesten und Streit um fast schon theologische Grundfragen wie: Wirtschaftsplanung oder soziale Marktwirtschaft? Inzwischen haben die Europäer einiges erreicht und haben sich angeglichen. Die Streitpunkte der Europäer sind jetzt feiner und konkreter geworden, weil wir viel mehr Felder haben, auf denen wir gemeinsam arbeiten. Heute haben wir etwa eine gemeinsame Währung. Da kann nicht mehr jeder machen, was er möchte. Es ist insgesamt ein Paradox: je näher man sich kommt, desto mehr Gemeinsamkeiten entdeckt man – aber auch mehr Fremdes am anderen.
Was ist bei allem Fremden das Geheimnis der deutsch-französischen Beziehungen?
Das Geheimnis besteht meiner Meinung nach aus drei Dingen: Wir sind zu Anfang immer unterschiedlicher Meinung, wir wollen aber nicht dabei stehen bleiben, sondern setzen uns aus Verantwortung gegenüber Europa zusammen und versuchen, einen Kompromiss zu finden. Das ist mühsam und klappt nicht immer. Und es geht nicht darum, wer gewonnen hat – wie es oft in den Medien heißt. Aber oft stimmen dann auch die anderen EU-Länder zu, weil die nördlichen Länder eher hinter Deutschland stehen und die Südländer eher hinter Frankreich.
Frankreich steckt in der Krise, während Deutschland als der zum Sparen mahnende Besserwisser der EU gilt. Gibt es Hoffnung für das deutsch-französische Paar?
Frankreich hat zehn Jahre relativen Niedergang hinter sich – Ergebnis verschleppter Reformen. In Deutschland gab es um die Jahrtausendwende, vor der Agenda 2010, auch elf Prozent Arbeitslose. Da kann man rauskommen, aber es erfordert Mut zur Strukturreform. Ich sage den Franzosen oft, dass sie diesen Mut mal zeigen sollten, statt ständig über deutsche „Bevormundung“ zu lamentieren. In einer Währungsunion muss es auch möglich sein, dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Dinge freundschaftlich anspricht. Andererseits müsste Deutschland Frankreich etwas mehr Zeit für seine Reformen lassen. In Frankreich rede ich daher oft anders als in Deutschland, quasi mit gespaltener Zuge. Allgemein bürsten wir vom DFI oft gegen den Strich, gegen die weitläufige Meinung und gegen Vorurteile über das jeweilige Nachbarland.
Wie hat sich Ihre Arbeit am Institut in den 40 Jahren entwickelt ?
Ursprünglich war ich ein deutscher Politologe und Ökonom, der über Frankreich geschrieben hat. In den 90er Jahren haben wir am Institut jedoch unsere Medienarbeit forciert. Seitdem geben wir viele Interviews. Später habe ich auch öfter für französische Leser über Deutschland geschrieben. Heute erscheinen die meisten Veröffentlichungen von mir in Frankreich. Dazu kamen dann noch Lehrtätigkeiten an den Universitäten Stuttgart, Osnabrück und Bordeaux.
Ludwigsburg und Montbéliard unterhalten die älteste deutsch-französische Städtepartnerschaft, die bereits 1950 gegründet wurde. Wie erleben Sie diese Zusammenarbeit?
Viele Partnerschaften sind eingeschlafen, aber diese ist sehr aktiv. Ich nenne als Beispiel nur das Nähprojekt mit Burkina Faso. Das Besondere ist, dass die Partnerschaft von der Basis, von den Bürgern und Vereinen, getragen wird und eine lernende Partnerschaft ist. Wir als Institut sind auch immer wieder daran beteiligt gewesen.
Sie arbeiten seit Jahrzehnten an der Schnittstelle zweier Kulturen. Gibt es französische Eigenarten, die Sie bis heute überraschen?
Sicherlich, etwa in der Kommunikation. In Frankreich formuliert man subtiler und liest zwischen den Zeilen. Ich als norddeutscher Protestant muss die Dinge hingegen offen aussprechen, was Franzosen oft vor den Kopf stößt. Daran habe ich mich bis heute nicht gewöhnt.