Die EU rügt Deutschland, weil die Feinstaubwerte in Stuttgart nach fast zehn Jahren immer noch über dem Limit liegen. Verkehrsminister Hermann (Grüne) will „wirkungsvolle Schritte“ gegen die dicke Luft ergreifen. Sonst drohen hohe Strafen.

Stuttgart - Die EU-Kommission stellt Deutschland an den Pranger: Brüssel droht mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), wenn die Stuttgarter Bürger nicht rasch wirksam vor den zu hohen Feinstaubkonzentrationen geschützt werden. Bis Ende Januar muss gegenüber der EU schlüssig dargelegt werden, mit welchen rasch wirkenden zusätzlichen Schritten der „zum Schutz der Gesundheit“ geltende Grenzwert eingehalten werden kann. Ansonsten drohen für jeden Tag mit zu hohen Schadstoffkonzentrationen sechsstellige Geldstrafen.

 

„Wir nehmen die EU-Klage sehr ernst und betrachten sie als eine umweltpolitische Herausforderung“, erklärt Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) auf StZ-Anfrage. Deshalb werde das Land schon bald „Szenarien mit wirkungsvollen Handlungsmöglichkeiten vorlegen“. Es gebe jetzt auch intensive Gespräche mit der Landeshauptstadt und dem Regierungspräsidium über die notwendigen Schritte.

Bereits die zweite Warnung aus Brüssel

Eile ist dabei geboten. Denn mit dem blauen Brief von Ende November hat Brüssel bereits die zweite Warnung verschickt: Das erste Mahnschreiben wurde bereits im April 2013 zugestellt. Die EU-Kommission will nicht mehr länger hinnehmen, dass die Feinstaubschwaden an der Messstation Neckartor seit fast einem Jahrzehnt viel zu oft deutlich über dem Grenzwert von 50 Mikrogramm je Kubikmeter Luft liegen. „Der Tagesgrenzwert wurde im Ballungsraum Stuttgart seit 2005 bis mindestens 2013 fortwährend überschritten“, heißt es unter anderem auf der 21 Seiten umfassenden Begründung für das Vertragsverletzungsverfahrens gegen das EU-Mitglied Deutschland. Auch in diesem Jahr lagen die Partikelwerte bereits am 11. November an 56 Tagen über dem gesetzlich zulässigen Limit. Erlaubt sind höchstens 35 Tage mit Überschreitungen im ganzen Jahr.

Wegen der in Stuttgart andauernden Feinstaub-Misere hält die EU die hierzulande seit 2005 ergriffenen Maßnahmen für „nicht wirksam und angemessen genug“. Deshalb seien auch „die wichtigsten Ziele der Richtlinie, der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, von Anfang an gefährdet“ gewesen. Der Stuttgarter Luftreinhalteplan und dessen Fortschreibungen haben für Brüssel „bislang nicht die erwünschten Ergebnisse erbracht“. Die EU-Kommission nimmt dabei durchaus zur Kenntnis, dass – etwa mit dem geplanten Parkraummanagement in der Innenstadt – weitere Schritte ergriffen werden sollen. „Deutschland gibt jedoch weder genaue Angaben noch Schätzungen, wann und in welcher Höhe mit positiven Auswirkungen für die Feinstaubwerte zu rechnen ist“, wird kritisiert. „Es wurden weder ein Zeitplan noch ein Stichtag für die Einhaltung des Grenzwerts angegeben.“ Das sei ein klarer Verstoß gegen die Feinstaubrichtlinie.

„Der Brief aus Brüssel ist eine schallende Ohrfeige für das Land und das Regierungspräsidium“, heißt es in einer Erklärung des Klima und Umweltbündnisses Stuttgart (KUS). Das Gesundheitsrisiko Feinstaub werde nicht als ernsthaftes Problem angesehen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkürze die dicke Luft die Lebenserwartung in stark belasteten Städten um mehr als zwei Jahre. Die tägliche Zahl von 80 000 Autos am Neckartor müsse stark reduziert werden. „Bei fünf aufeinanderfolgenden Tagen mit zu hohen Werten muss es Zufahrtsbeschränkungen geben“, fordern die Umweltschützer.

OB sieht keine Lösung „von heute auf morgen“

„Kurzfristig ist es nicht möglich, die Feinstaubwerte am Neckartor unter den Grenzwert zu senken“, erklärt der Klimatologe Ulrich Reuter vom städtischen Umweltamt. Wegen des Briefs aus Brüssel werde es bald Gespräche mit dem Land geben. Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) hat bereits – wie berichtet – als Reaktion auf die Rüge aus Brüssel betont, dass sich das Problem mit Stickoxiden und Feinstaub „nicht von heute auf morgen“ lösen lasse. Dazu seien viele einzelne Schritte erforderlich.

Die Landesregierung sieht in der Antwort auf eine Anfrage der beiden Grünen-Landtagsabgeordneten Nikolaus Tschenk (Stuttgart) und Daniel Renkonen (Bietigheim-Bissingen) sogar Fortschritte bei der Luftreinhaltung in Stuttgart. Das Tempolimit von 40 Kilometer in der Stunde habe die Stickoxidwerte an der Hohenheimer Straße verringert. Das Land rechnet aber dennoch damit, dass eine flächendeckende Einhaltung der Stickoxidgrenzwerte nicht in Kürze, sondern erst „spätestens 2030“ möglich ist.

Die beiden Abgeordneten sehen hingegen einen größeren Handlungsbedarf. „Die Luftsituation hat sich zwar leicht gebessert“, meint Tschenk, „aber vor allem beim Feinstaub gibt es noch viel zu tun.“ Für Renkonen sind dafür „unter anderem bessere Logistikkonzepte mit umweltfreundlichen Transportern und Lastenfahrrädern notwendig“.