In Lugansk herrschen die Separatisten. Doch ihnen gelingt es nicht, das tägliche Leben zu organisieren. Die Menschen haben keinen Strom, kein Wasser und keine Heizung. Immerhin: der Waffenstillstand hält an.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Lugansk - Dieser Geruch verheißt Böses. Es ist ein stechender Gestank, eine Mischung aus Verwesung und trockenem Blut. Das Atmen ist fast unmöglich, Tränen schießen in die Augen. Anatoli bemerkt das kurze Zögern. „Man gewöhnt sich daran“, sagt er beruhigend und zieht mit einem kräftigen Ruck die schwere Tür zum Leichenschauhaus eines Hospitals in Lugansk auf. Kühle, feuchte Luft strömt aus dem dunklen Raum. Vorbei geht es an einer Wand, zehn Kühlkammern sind dort zu sehen, daneben stapeln sich mehrere schmucklose Särge. „Das hier ist nicht normal“, sagt Anatoli und deutet auf die Särge, „aber es ist Krieg.“ Dann fügt er noch entschuldigend hinzu: „Seit Monaten gibt es keinen Strom.“ Mit diesem Satz erklärt sich der Geruch: die Leichen, auch jene in den Kühlkammern, verwesen langsam vor sich hin. Plötzlich werden auch die vielen Fliegen erkennbar, aufgescheucht durch die Besucher schwirren sie in Schwärmen im Halbdunkel durch den Raum.

 

Anatoli, der so etwas wie der Hausmeister dieser stickigen Gruft ist, zuckt mit den Schultern. Im Sommer während der schweren Kämpfe sei alles viel schlimmer gewesen, erzählt er. Jeden Tag seien neue Tote gebracht worden. Wie viele es waren, weiß er nicht mehr genau. „Hunderte Leichen, manche waren nur noch Matsch.“ Aber keiner habe die toten Soldaten abgeholt, nicht die Ukrainer und auch die Separatisten nicht. Damals, während der heißen Tage, seien auch die Fliegen gekommen. Jetzt im Herbst mache er einfach nachts die Tür des Leichenschauhauses auf und lasse die Kälte herein. Das ist die Pragmatik des Krieges.

Die Separatisten ziehen marodierend durch die Straßen

Anatoli zögert, bevor er weitererzählt. Der junge Ukrainer lässt sich noch einmal versichern, dass sein richtiger Name auf keinen Fall in der Zeitung stehen wird. „Man weiß nie“, sagt er und macht eine unbestimmte Armbewegung durch den Raum, gerade so, als könnten sogar die Toten Geheimnisse verraten. Angst und Unsicherheit sind die beiden Konstanten, die das Leben der Menschen in Lugansk seit Monaten bestimmen.

„Die Separatisten haben sich als Befreier feiern lassen“, hebt Anatoli an zu erzählen, „doch nun führen sie sich auf wie die Herren der Stadt, marodieren durch die Straßen, Schnellfeuergewehre über der Schulter.“ Wahllos hielten sie Passanten an, selbst von kleinen Ladenbesitzern würden „Abgaben“ verlangt – und sei es nur in Form von Zigaretten, Schokolade oder Alkohol. „Sie haben die Unabhängige Volksrepublik Lugansk ausgerufen“, sagt Anatoli und lacht verächtlich, doch sie schafften es nicht einmal, das alltägliche Leben zu organisieren. „Seit Monaten haben wir kein Wasser und keinen Strom, die Heizung funktioniert nicht, für Lebensmittel stehen wir stundenlang an, und jeden Tag haben wir Angst vor Granatangriffen.“ Anatoli versichert, dass er weder auf Seiten der ukrainischen Armee noch auf jener der Separatisten stehe – er wolle einfach nur sein normales Leben wieder zurück.

Eine verwirrende Fahrt durch „Neurussland“

„Die Situation ist jetzt viel besser als im Sommer“, sagt Genadi. Seit Anfang September eine Waffenruhe zwischen der Regierung in der Ukraine und den Separatisten ausgehandelt worden ist, wagt es der junge Mann aus Charkow, seine Verwandten in Lugansk zu besuchen. Schon dreimal ist der Ukrainer, der in einem kleinen Hotel arbeitet, in einer Marschrutka, einem privaten Minibus, die Strecke gefahren. Jedes Mal hatte er eine prall gefüllte Tasche mit allerlei Lebensmitteln in Konserven dabei. Es sind zwar nur knapp 350 Kilometer in seine Heimatstadt, aber die Reise ist eine Geduldsprobe, es ist eine bisweilen verwirrende Fahrt durch das umkämpfte „Neurussland“.

Stopps an den Kontrollposten der Separatisten

Auf den Straßen, die aus Lugansk herausführen, passiert der Bus immer wieder zerstörte Häuser, vielerorts sind alle Fensterscheiben geborsten. Einige Male muss der Fahrer Schlangenlinien um kleine Krater in der Straße fahren. „Das war die ukrainische Armee“, sagt Genadi. „Sie treffen nicht immer das, was sie treffen wollen. Es heißt aber auch, dass sich die Separatisten mit ihren Raketenwerfern in Wohngebieten verstecken würden – aber wer weiß das schon.“ Am Stadtrand fährt die Marschrutka an einem zerschossenen Wohnblock vorbei. Genadi zeigt mit dem Finger darauf: „Was erwartet man von Menschen, deren Haus von ukrainischen Raketen zerschossen worden ist – dass sie die Ukraine lieben?“

Kurz hinter der Stadtgrenze rumpelt der Bus auf den ersten, mit Sandsäcken bewehrten Kontrollposten der Separatisten zu. Breitbeinig stehen die Männer da, manche in Sturmhauben, die Gewehre schussbereit. Einer der Kämpfer schlendert auf die Marschrutka zu, eine grimmige Miene, ein abschätzender Blick in den Innenraum, ein kurzes Winken: weiterfahren. Die Soldaten sind beschäftigt, denn auf der Gegenfahrbahn stauen sich die Fahrzeuge. Seit der Waffenstillstand für die Region ausgehandelt worden ist, kehren immer mehr Flüchtlinge nach Lugansk zurück. Sie lassen sich nicht davon abhalten, dass das Leben in der Stadt noch immer eine unsägliche Qual ist – auch davon nicht, dass es immer wieder Kämpfe in und um Lugansk gibt. Zurück treibt sie die Angst, dass ihre verlassenen Wohnungen geplündert werden, die Sorge um Verwandte oder einfach die Tatsache, dass sie im Rest der Ukraine keinen Unterschlupf gefunden haben.

Ab und an steigen Rauchsäulen in den Himmel

Der Bus rollt weiter, draußen erstrecken sich nicht enden wollende Maisfelder, immer wieder muss der Fahrer an Kontrollposten anhalten. Es erschließt sich nicht, nach welchem militärischen System diese Checkpoints entlang der Straße aufgebaut sind. Ab und an steigen weit entfernt am Horizont Rauchsäulen in den Himmel. „Kein Beschuss“, murmelt der Fahrer und gibt eine kurze Einführung in die Grundlagen der Kriegskunde. „Wäre dort etwas explodiert, ein Auto, ein Panzer oder ein Haus, wäre der Rauch dicht, schwarz und schwer. Das aber ist hellgrauer Rauch, das ist wahrscheinlich ein Bauer, der nach der Ernte sein Feld angezündet hat.“

Dann steht eine einsame Kuh angebunden am Straßenrand, weit und breit kein Mensch, kein Haus. Mit aberwitziger Geschwindigkeit jagt der Fahrer den Bus durch die ärmlichen Dörfer, wo alte Mütterchen auf Kisten sitzen und Kartoffeln säubern oder ihre Vorgärten hacken. Der Boden in dieser Region ist dunkel und fruchtbar – die Beschreibung der Ukraine als unerschöpfliche Kornkammer, hier trifft sie zu. Manchmal muss der Busfahrer bremsen, weil ein mit Weizen überladener Lastwagen fast die ganze Straßenbreite einnimmt. Die friedliche Eintönigkeit der Landschaft wirkt wie ein Betäubungsmittel, niemand redet, man starrt aus dem Fenster, hängt Gedanken nach.

Breitbeinig, selbstsicher, Gewehre im Anschlag

Alle Not und alles Elend in Lugansk sind längst vergessen, da meldet sich der Krieg zurück. Der Fahrer nimmt den Fuß vom Gas, schaltet zurück, von Weitem schon hat er den quer stehenden Radpanzer auf der Straße erkannt, am Turm flattert eine ukrainische Fahne. Nun füllen sich die zusammengesunkenen Körper der Fahrgäste wieder mit Leben. Langsam rollt die Marschrutka auf die Soldaten zu. Die stehen da, breitbeinig, selbstsicher, Gewehre im Anschlag, ein Panzer nimmt das Fahrzeug ins Visier. Immer wieder werden Geschichten über den jämmerlichen Zustand der ukrainischen Armee erzählt – diese martialischen Männer verströmen nicht den Eindruck, als seien sie unmotiviert, schlecht ausgebildet und miserabel ausgerüstet. Ein kurzer Wortwechsel zwischen Fahrer und Kommandeur, die Pässe werden kontrolliert, dann geht es weiter. Dieses Spiel wiederholt sich noch zweimal auf dem Weg in Richtung Charkow.

„Die Soldaten haben inzwischen Routine“, sagt Genadi. Noch vor wenigen Wochen seien die Kontrollen weniger professionell abgelaufen – vor allem auf Seiten der Separatisten. Man sei sich nicht immer sicher gewesen, sagt Genadi, ob man es an manchen Kontrollpunkten nicht mit einfachen Banditen zu tun gehabt habe.

Die Lenin-Statue ist nicht mehr da

Inzwischen ist es dunkel geworden, die Marschrutka schiebt sich durch den dichten Verkehr in Charkow. Nichts erinnert daran, dass nur drei Stunden weiter ein blutiger Krieg tobt. Vorbei geht es am überfüllten McDonald’s, dem neuen, hell erleuchteten Historischen Museum und dem Monument „Slawa Ukraini“, Ruhm der Ukraine, angestrahlt von riesigen Scheinwerfern. Der Bus hält am Maidan Swobodi. Am anderen Ende des überdimensionierten Platzes der Freiheit duckt sich ein leerer Sockel. Vor wenigen Tagen stand dort noch eine Lenin-Statue, ukrainische Nationalisten haben sie gestürzt.

Genadi schlägt sich beim Aussteigen den Mantelkragen hoch. Nach einem ungewöhnlich heißen Sommer ist es inzwischen kalt geworden. „In Lugansk gibt es nur noch ein funktionierendes Kraftwerk“, sagt er nachdenklich. „Wie soll meine Familie dort den Winter überstehen?“ Dann schlendert er davon, seine leere Tasche unterm Arm. Zumindest Genadi hat sein normales Leben wieder.