Auch wenn dem Regisseur Luk Perceval im dritten Teil seines achtstündigen Zola-Marathons in Duisburg inszenatorisch weniger einfällt, beeindruckt die Trilogie durch kluge Dramaturgie und ein starkes Ensemble.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Duisburg - Das christliche Weltbild wurde von drei Männern erschüttert. Darwin, Freud und Marx. Darwin erforscht, dass der Stärkere gewinnt und dass dies nicht an Gott liegt, der alle lieb hat (oder eben nicht). Freud sagt, der Trieb und nicht die Vernunft bestimmt das Handeln. Und Marx behauptet, der Mensch sei fremdbestimmt durch das Kapital. Luk Percevalmeint dasselbe, nennt es aber anders: „Liebe + Geld + Hunger. Trilogie meiner Familie“: In drei sich aufeinander beziehenden Inszenierungen befragt der Regisseur die Verfasstheit der Menschen, lässt sie daran verzweifeln, dass sie viel verändern wollen und doch am Ende scheitern.

 

Perceval und seine Dramaturgen Jeroen Verstelle und Susanne Meister haben sich Romane des gesellschaftskritischen französischen Schriftstellers Émile Zola (1840-1902) vorgenommen und klug ineinander verschränkt. Seit 2015 jedes Jahr während Johan SimonsRuhrtriennale-Intendanz kam jeweils ein Teil zur Premiere. Jetzt gibt es alles auf einmal. Von 13 bis 21.30 Uhr – gute acht Stunden sind ein Theatertag. Zu erleben war der Marathon in einer Gießereihalle, Teil eines ehemaligen Thyssen-Stahlwerks im Norden Duisburgs. Wo früher flüssiges Roheisen direkt aus dem Hochofen in ein Bett aus Formsand floss, um zu Eisenbarren zu erstarren, bewegen sich heute Körper zu Texten.

Das Publikum rückt mit Wolldecken und Schals an

Die Halle ist halb offen, das Publikum rückt mit Wolldecken, Schals und Mützen an. Theater am Mittag, das hatte den schönen Lerneffekt: Auch in der Taghelle muss eine Bühne beleuchtet werden, damit sie als Kunstort hell aufscheint. Von lauer Luft umweht und vor dem Ofengerüst wie im Inneren einer riesigen Maschine sitzend, Teil 1: Liebe, Darwin. Der Privatwissenschaftler Pascal (Joachim Bissmeyer) tüftelt an der Vererbungslehre, statt sonntags in die Kirche zu gehen, wie es seine resolute Mutter (Barbara Nüsse) fordert. Er hofft, man könne durch geschickte Fortpflanzung das Leid der Welt minimieren. Er selbst aber verliebt sich dann in seine Nichte (Marie Jung). *Und auch sie liebt nur ihn, da kann der fesche Doktor Ramond (Pascal Houdus) noch so honigkuchensüß grinsen und in einer Schaukel die verrücktesten Balz-Tanzflüge veranstalten.*

Parallel dazu wird erzählt, wie ein anderes Familienmitglied, die Wäscherin Gervaise (Gabriela Maria Schmeide) ihrem Schicksal nicht entkommt, Teil einer Sippe von Säufern zu sein. Ihr Mann Lantier (Sebastian Rudolph) hat keine Lust auf ein kleinbürgerliches Leben, springt vom Zuschauerraum auf die Bühne, an der Maschinenkulisse vorbei. Winke, winke, fort ist er. Ins Jammergesicht von Gervaise schleicht sich fast unmerklich ein Lächeln - gut, dass der prächtig aufgelegte, im Ruhrpottslang krakelende Dachdecker Coupeau (Tilo Werner) vorbeischaut. Gervaise sehnt sich nach einer soliden Existenz, sie arbeitet hart, versucht, ihre Kinder zu guten Menschen zu erziehen, gibt sich aber jedem hin, der sie betatscht. Am Ende stehen bei ihr wie bei dem Wissenschaftler Pascal Wahnsinn und Tod.

Perceval inszeniert eine Choreografie des Grauens

Keiner wird aus Fehlern schlau - auch nicht die Kinder von Gervaise. Nana zum Beispiel. Um die blinde Begierde kreist der zweite Teil „Geld“, nach der ersten Pause, in der auf der Stelle hüpfende junge Damen zur Theatergymnastik aufforderten *und unternehmungslustige Zuschauer in einem geführten Spaziergang den zu einem Landschaftspark verwandelten Ort erkunden, an dem Menschen schufteten, wie sie in den Romanen von Zola vorkommen.* Auf der Bühne von Annette Kurz, einem gewölbten Holzboden, steht nun ein Paravent, hinter dem sich die verführerische Silhouette von Nana (Maja Schöne) abzeichnet. Barbara Nüsse, die einen herrlich hartnäckigen, leicht tattrigen Grafen spielt, lässt sich von Nana ausnehmen. Die wiederum kann mit dem Kapital nichts anfangen, ist nur glücklich, wenn sie mies behandelt wird. Nicht viel besser ergeht es der aufrechten Verkäuferin Denise (Patrycia Ziolkowska), die lieber sozialistische Träume träumt als sich von einem Kapitalisten aushalten zu lassen. *Schöne Besetzungsfortsetzung: Ziolkowska die in Teil eins eine Wäscherin spielt, die Gervaises Exmann Lantier (Sebastian Rudolph) verführt, muss sich nun den Avancen des Kauhausbesitzers erwehren, der wiederum gestellt wird von Rudolph.*

Die kleinen Hoffnungen schlagen in der Inszenierung stets um in Hysterie und Wahnsinn, Figuren verlieren ihre Kontrolle, Perceval lässt sie in einer Choreografie des Grauens auch körperlich verzweifeln, sich wälzen, winden, schlagen, krümmen. Gottlose Gestalten. Die Masochistin Nana endet wie ihre Vorfahren - in der Gosse. Regiert werden alle von Geldgier und Trieb. Der Himmel weint. Kurz vor 18 Uhr und Nanas Ende wird das Bühnenbild mit echtem Regen bereichert.

Können wir nicht doch revoltieren?

Erst kommt das Fressen, dann die Moral: Diesen etwas garstigen Brechtsatz befolgend, wärmt sich das Premierenvolk in der Pumpenhalle, futtert Stullen und Trauben aus Picknickkörben oder geht ins Restaurant nebenan, lässt sich vom Masseur durchkneten, lagert auf Sitzsäcken aus wärmendem Filz. Um sich dann dem Kältetest auszusetzen. Bei knapp über 10 Grad Celsius fragt Perceval in „Hunger“: Können wir nicht doch revoltieren? Als hätte er gewusst, dass die Schauspieler bei diesen Temperaturen Bewegung nötig haben würden, lässt er sie wieder und wieder ohne erkennbaren Sinn im Kreise laufen, auch wird jetzt viel gebrüllt und pathetisch irr gestikuliert. Hungernde Bergarbeiter streiken, metzeln den Chef aber auch aus gemeinem Blutrausch. Gervaises Sohn, dem Triebtäter Jacques (Rafael Stachowiak), gelingt es nicht, seinem Drang zu widerstehen, Frauen abzustechen. Und auch wenn Sebastian Rudolph, der sich nach dem Filou in „Liebe“, dem Kaufhausbesitzer in „Geld“ nun in einen Revolutionär verwandelt, skandiert, „ich glaube an die Brüderlichkeit“, klingt das trotzig, als müsse er den Glauben daran herbeischreien. Das wiederum ist trotz kleiner inszenatorischer Schwächeanfälle ein beeindruckendes Finale. Ein Todesreigen und ein Kosmos, der die Erkaltung der Gesellschaft zeigt. Wie bestellt wirkt die nächtliche Kälte in Duisburg. Ein Festivalereignis, auf das nach acht Stunden das rotnasige Publikum wie das kälteschlotternde grandiose Ensemble mit heißem Applaus reagieren.

Die Trilogie wird im koproduzierenden Hamburger Thalia Theater vom 23. September an zu sehen sein, dann freilich ohne Kältetest und imposante Ruhrkulisse. www.thalia-theater.de. Karten-Telefon: 040.32 81 44 44