Einfach mal losrennen? Losfahren? Losgehen? Ohne Ziel, ohne Zweck? Unserer effizienzversessenen Gesellschaft ist solches Treiben verdächtig. Dabei gibt es nichts Schöneres, um Kopf und Körper zu versöhnen. Ein Plädoyer für die sinnfreie, aber nicht sinnlose Bewegung des StZ-Autors Martin Gerstner.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Die Leere kann ein Paradies sein. Der Organismus beschränkt sich auf elementare Körperfunktionen. Das Gehirn lässt sich treiben, das Herz pocht, der Muskel brennt, der Horizont beginnt nur ein paar Meter voraus. Informationen sickern tröpfchenweise ins Bewusstsein. Noch hundert Schritte, noch 50 Kilometer, noch dieser Anstieg, noch eine Wegbiegung bis zur Rückkehr in die Zivilisation. Die Luft strömt in den Körper, der sich öffnet, der einsaugt und ausstößt, einsaugt und ausstößt, einsaugt und ausstößt. Die Muss-Gedanken flattern wie Sperlingspapageien und verlieren sich irgendwann im Weiten: „Hast du die Einkaufsliste . . .“ – „Den Termin für die Autoreparatur . . .“ – „. . . teile ich Ihnen mit, dass wir die Versicherung . . . “ – „. . . freue ich mich auf unser Gespräch . . .“ – „. . . nehmen wir an der Veranstaltung gerne teil . . .“ – „. . . sind wir. . . müssen wir . . . sollen . . . “

 

Dieser Zustand sinnfreier, aber nicht sinnloser Bewegung ist dem Menschen fremd geworden. Sie widerspricht der Optimierungsideologie unserer Zeit. Das Ziel der Ziellosigkeit verhöhnt den Zwang zur Effizienz, zur behutsamen Einteilung der Kräfte, zu deren Schonung für Familie und Beruf, zur Optimierung der Potenziale.

Die große Energieverschwenderin Natur

Was für eine herrliche Energieverschwenderin ist dagegen die Natur! Sie verströmt sich freigiebig, lässt flattern und flitzen, krabbeln und kriechen. Sie protzt mit Vielfalt, zeigt ungeniert, was sie hat, gibt sich der prallen Fruchtbarkeit und dem jähen Tod hin, hinterfragt nichts und erneuert sich mit Würde. Der Mensch aber ist ein Sparfuchs, der seine Energie gezielt einsetzt. Er glaubt, das Leben zu überlisten, indem er seine Kräfte einteilt, sich sauber hält und Vernunft walten lässt. Stolz kann er auf dem Sterbebett sagen, in den letzten zehn Jahren immer bei der Vorsorgeuntersuchung gewesen und in keine Pfütze getreten zu sein.

Seitdem die Zwangsarbeit abgeschafft wurde, steht es dem Menschen frei, ob er seinen Körper schont oder beansprucht. Wer seiner Grundmüdigkeit nachgibt, entscheidet sich dafür, bewegt zu werden. Routiniert und endgültig transportieren ihn moderne Verkehrsmittel und die unablässig rotierende Maschine der Arbeitsteilung mit unerbittlicher Fürsorge wie ein Postpaket von A nach B. Er lässt es sich gefallen, richtet sich in seiner Komfortzone ein, scheut Kälte, Nässe, Entfernung, Schweiß und Mühe. Verständlich, da er ein gewaltiges Maß an Energie für den Job, die Familie und die Befriedigung des Konsums und der kulturellen Bedürfnisse aufwenden muss. Und Gründe, Bewegung zu vermeiden, finden sich allemal: „Nimm das Auto, es regnet bestimmt gleich.“ – „Du kannst doch bei dem Wetter nicht . . . “ – „Also mich bringen heute keine zehn Pferde mehr raus“ – „Ist doch schon dunkel“ – „. . . müssen morgen fit sein . . .“

Medizinisch ist der Fall klar

Wenn wenigstens ein Verweilen an die Stelle der Bewegung träte! Doch selbst Momente des Innehaltens gönnt sich der Mensch nicht mehr. Er isst schnell, atmet flach und treibt ein ungutes Spiel mit sich selbst. Die Bewegung verschiebt er in das Reservat des Sports – bestenfalls.

Dabei ist der Sinn von Bewegung längst zu einem medizinisch-ästhetischen Dogma erhoben worden. Medizinisch ist der Fall klar: Bewegung verzögert das Altern, hilft gegen Demenz, kann den Ausbruch vielfältiger und heimtückischer Krankheiten verhindern. Studien des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg legen nahe, dass für rund 15 Prozent der allgemeinen Krebsrate Bewegungsmangel die Ursache ist. Übergewicht und Fettleibigkeit, so heißt es, seien mit zahlreichen Tumorarten verbunden. Das lassen sich viele Menschen gesagt sein und schleppen sich an lauen Sommerabenden über die Joggingpfade oder starren beim Pedalieren auf dem Ergometer in eine Zeitschrift, die von Cellulitis verunstaltete Körperregionen wie moderne Vanitas-Symbole ausbreitet. Ihr Bewegungsprogramm ist auf exakt zu messende Ziele ausgerichtet: drei Kilo weniger, ein um 2,4 Prozent niedrigerer Blutdruck, bessere Cholesterinwerte. Ästhetisch spricht ohnehin alles für gezielte sportliche Betätigung. Das Bindegewebe, die Muskeln, man weiß das längst alles. Dennoch: wer immer nur dem auferlegten Programm der Experten folgt, läuft Gefahr, die Bewegung nicht als Lust, sondern als Zwang zu empfinden.

In der Kindheit war es selbstverständlich

Wie anders war das damals, in der Kindheit: A und B waren nur grobe Koordinaten, zwischen denen tausend Nebenwege und abenteuerliche Abweichungen lockten. Das Kind nimmt nicht den geraden Weg, es dreht sich um sich selbst, hüpft auf und ab, springt in brackige Pfützen, bis es spritzt, kickt mit dem Fuß gegen arglose Steine, klaubt ein Papier auf und lässt es über dem Kopf flattern, legt sich auf den Rücken und ertrinkt im blauen Himmel und hat am Ende des Tages die Gewissheit, das Beste mit der unendlich vorhandenen Zeit angefangen zu haben. Dieser Leicht-Sinn ist dem Erwachsenen abhanden gekommen. Es ist derselbe Leichtsinn, der uns damals das an die Wand gelehnte Fahrrad des großen Bruders schnappen und einfach losfahren ließ – die Rückkehr mit blutigen Schrammen und zerrissenen Hosen war unvermeidliche Beigabe. Es war derselbe Leichtsinn, der uns bäuchlings an den Rand der Kiesgrube rutschen ließ, um zu sehen ob es wirklich 80 Meter bergab ging. Unverwundbar waren wir damals. Die Lust an der Bewegung ist die Lust am Unvorhersehbaren. Sie kümmert sich nicht um Atemtechniken, um Schrittfolgen und Pulsfrequenzen. Sie legt los und legt sich in Gras, wenn es nicht mehr geht. Sie dreht den Optimierern eine lange Nase. Sie ist das Bekenntnis zur Unvollkommenheit, zur Nicht-Perfektion. Man weiß ja nie, was einen draußen erwartet. Es könnte windig sein, regnen, schlimmstenfalls täte sich eine Lücke des Mobilfunknetzes auf.

„Komm! Ins Offene, Freund!“, heißt es bei Hölderlin. Der Gang aufs Land wird zur Metapher für das Sich-Lösen von Schwere und Bedrückung. Das Losrennen, -gehen, -fahren, die Mischung aus Hingabe und Stumpfsinn ist ein Affront gegen die effizienzversessene Gesellschaft. Darin liegt ihr Reiz. Wer sich bewegt, wer die verpuppten, wohlklimatisierten Komfort-Arenen unserer Städte und Wohnungen verlässt, erkundet Neues und erfährt etwas über sich selbst. Er stolpert, tastet, biegt falsch ab, hat am Ende Wasser in den Schuhen. Und fühlt sich großartig. Der Nestor der Sportwissenschaft, Ommo Grupe, sagt es nüchterner: Der Mensch sei seinem Wesen nach nicht festgelegt, sondern offen und sich verändernd. Aus diesem Grund brauche er die Bewegung.

Es geht nicht um Schönheit oder Eleganz

Die Lust an der Bewegung entzieht sich ästhetischen Kategorien. Sie erkundet einen Gebirgspass genauso intensiv wie ein Industriegebiet am Rand der Stadt oder eine modrige Trainingshalle, in der man gegen den Sandsack haut. Sie findet nichts daran, auf einem Trampolin zu hüpfen oder einen Drachen steigen zu lassen. Ganz nebenbei überwindet der Mensch die auf Außenwirkung geeichte Normierung. Der Gedanke „Hoffentlich sieht mich niemand“ macht sich davon. Natürlich hat die Sportindustrie dafür auch ein Vokabular entwickelt. Runners High, Endorphin-Peak, das Tableau der Glücksbringer ist groß. Ob sie existieren? Ist doch egal. Es reicht, einmal die Luft des Morgens in sich hineinzuziehen, das Knarzen der Sandkörner unter den bloßen Füßen zu spüren, den Strahlen der Sonne hinterherzufahren und die freudige Rückmeldung der Herz-RhythmusMaschine zu spüren, die endlich mehr tun darf als rasenden Stillstand zu produzieren.

Wer dennoch zeitgeistige Überhöhung seines Tuns sucht, würde mit ein bisschen kreativer Interpretation sogar fündig. Der Philosoph Peter Sloterdijk identifiziert in seinem Buch „Du musst dein Leben ändern“ die Perfektionierung als Prinzip des Menschseins. Ihre Praxis sei die beständige Übung, heißt es. Geübt wird nicht nur mit dem Leib, sondern auf dem Feld der Rhetorik, der Sexualität oder der Technik. Die simple Schlussfolgerung, durch ständiges Üben werde man ein besserer, was heißt, ein dem Leistungsprinzip optimal entsprechender Mensch, verwirft der Philosoph aber nachdrücklich. Am Ende seiner funkelnden Gedankengebäude steht gerade nicht das reibungslose Funktionieren, das Sich-fit-Halten, die Unterwerfung unter die Erfordernisse der Arbeitswelt, sondern die Askese. Also eine Reduktion, aber keine asketische Leibfeindlichkeit, wie sie das Christentum emporhält.

Bildungsbürger und Boheme Seit’ an Seit’

Denn wer will festlegen, wo und wie der Mensch übt? Nicht nur die Kirche beargwöhnt den Körper misstrauisch, auch die Tradition des Bildungsbürgertums setzt den Geist über den Körper und übersieht, wie eng beides zusammenhängt. Heute macht sich die Bohème einen Spaß daraus, Leibesübungen als ridikül überbordendes Gestrampel der Yuppiekultur zu diffamieren. Dem armseligen im Fitness-Studio seine Agenda abarbeitenden Erfolgshamster wird der Typ des lässigen, im toskanischen Landhaus Wein schlürfenden Freidenkers und Lebenskünstlers entgegengesetzt. Im Idealfall hat er einen Strohhut auf dem Kopf. Nun ja, jeder wie wer will. Aber wer Bequemlichkeit als Lebensstil zelebriert, limitiert sich selbst. Wer erst rausgeht und danach trinkt, bekommt wohlige Erschöpfung als Belohnung. Und trägt ein wenig Risiko und Unberechenbarkeit ins Leben.

Das heißt keineswegs, dass sich durch die ritualisierte Inanspruchnahme des Körpers immer ein rauschhaftes Glücksgefühl einstellt. Der Schriftsteller Thomas Bernhard beschreibt einen solchen Körperlichkeitsrausch als Fluchtversuch aus der veritablen Hölle seiner Jugend – einer Mischung aus Missachtung, Gefühlskälte und psychischer wie physischer Gewalt. Ihr zu entkommen versucht er, indem er das alte Fahrrad seines Vormunds entwendet und zu seiner Tante nach Salzburg fahren will. Er erhofft sich aus dieser tollkühnen, weil unvorbereiteten und waghalsigen Aktion Anerkennung und Liebe. Seine Umwelt, so die Hoffnung des Jungen, werde aus Verblüffung über das Unternehmen in Bewunderung ausbrechen. „Ich hatte an diesem Tag die größte Entdeckung meines bisherigen Lebens gemacht, ich hatte meiner Existenz eine neue Wendung gegeben, möglicherweise die entscheidende der mechanischen Fortbewegung auf Rädern.“ Das Vorhaben endet in einer Katastrophe. Der Weg steigt an, die Erschöpfung kommt, die Hose hängt in Fetzen am Bein. Am Ende der Sturz in den Straßengraben, Öl, Regen, Blut, Enttäuschung. Statt Liebe und Anerkennung stellt sich eine erneute Demütigung ein. Ein Scheitern.

Doch immerhin: Er hat es versucht.