In Malis Hauptstadt behauptet sich bis jetzt ein weltoffener Glaube. Der Hohe Islamische Rat begrüßt sogar Frankreichs Militäreinsatz. Doch die Anzeichen einer schleichenden Radikalisierung vor allem junger Männer mehren sich.

Bamako/Mali - Der Automechaniker fasst sich an den Kopf: „Das sind keine echten Muslime“, meint Mahamadou. „Ein guter Muslim tötet nicht.“ Von allen Seiten strömen Menschen am Freitagmittag in die große Moschee im Zentrum von Bamako. Vor den Eingängen türmen sich Sandalen und Schuhe. Die Entrüstung über das, was sich im Norden Malis im Namen des Islams abspielt, scheint alle zu einen. „Wir haben Angst vor denen. Alle haben Angst“, sagt Karim. Der schmächtige, ältere Herr wedelt erregt mit seinen weiten Hemdsärmeln. „Das sind Fanatiker, Gauner, Banditen, Diebe, Ungläubige, Frauenschänder. Sie missbrauchen den Islam. Ein guter Muslim nimmt niemandem seine Freiheit, schneidet ihm nicht die Hände ab, und verprügelt niemanden, weil er eine Zigarette raucht. Das ist doch nicht religiös.“

 

Die riesige Halle der Moschee ist voller Menschen, die beten. Auch draußen unter den Bäumen sitzen die Frommen in dichten Reihen. Selbst auf der angrenzenden Straße knien Gläubige auf ihren kleinen Teppichen. Sie haben das Haupt gen Mekka gerichtet und trotzen der staubig-heißen, mit Abgasen gewürzten Mittagshitze. Der Islam ist die Mehrheitsreligion in Mali. 90 Prozent der Einwohner gehören ihm an. Tuareg und Berber brachten den Glauben vor über tausend Jahren durch die Wüste in den Süden. Man lebt und lehrt hier eine tolerante Variante der Religion, die mystische Elemente und die Verehrung der Ahnen miteinbezieht. Orte wie Timbuktu und Gao waren wichtige Zentren islamischer Gelehrsamkeit. „Wir sind ein laizistisches Land“, sagt Karim. „Wir lieben hier alle, auch die Christen.“

Umso fassungsloser sind die Menschen in der Hauptstadt über das, was Medien, Freunde und die Verwandten – zu Zehntausenden aus dem Norden geflohen – berichten. Sie erzählen vom Wüten der islamistischen Gruppen Ansar Dine, AQIM und MUJAO, die mehr als die Hälfte des Landes besetzt und untereinander aufgeteilt haben. Ihre Krieger patrouillieren durch Timbuktu und Gao. Sie strafen den Konsum von Alkohol, Tabak und Musik mit Stockschlägen, steinigen unverheiratete Paare und hacken Dieben die Hand ab. Fotos verhüllter Fanatiker, die Heiligtümer zertrümmern und auf Pick-ups mit Waffen und schwarzen Fahnen durch die Wüste rasen, haben das öffentliche Bild des Islams weiter verdüstert. Im Internet sind Videos zu sehen, die sogenannte Religionspolizisten bei der Arbeit vorführen. Eins zeigt einen Mann mit blauer Weste (Aufschrift: Police islamique), der seinem gefesselten Opfer mit einer Art Dolch eine Hand absäbelt. Die Szene ist mit dramatisch-triumphaler Musik unterlegt.

Mali ist arm und wird immer ärmer

„Das mögen wir gar nicht. Das ist nicht gut“, sagt vor der Moschee in der Hauptstadt eine Dame kopfschüttelnd. Hilflos greift man zu Erklärungen. Das müssen Fremde sein. „Libyer, Tunesier, Sudanesen, Algerier, die über Mali herfallen“, glaubt Mahamadou. „Und die Tuareg“, setzt ein anderer Mann im Vorbeigehen hinzu, „die haben für Gaddafis Regime gekämpft. Für Geld – und jetzt greifen sie uns an.“ Banditentum sei das, ruft ein junger Mann, der aus Niafunké stammt, einem kleinen Ort am Niger. „Da geht es um Drogen oder was weiß ich.“ Diese Sicht spiegelt die offizielle Sprachregelung. In den Verlautbarungen von Regierung und Armee ist meist von „Terroristen und Drogenhändlern“ im Norden die Rede.

Mali ist arm. Die schon ein Jahr währenden Wirren haben das Land noch ärmer gemacht. Verheerend ist die Lage im Norden, wo alles knapp ist: Die Verwaltung kollabiert. Die Gesundheitsversorgung ist am Limit. Keine Schule, keine Bank hat mehr geöffnet. In Timbuktu gab es vergangene Woche tagelang weder Wasser noch Strom. Die familiären Netzwerke, die viel Elend auffangen müssen, sind auch im Süden bis zum Reißen gespannt. Da ist ein bisschen Hoffnung willkommen. Das Gebet bietet Trost, der Fußball Zerstreuung. Grüppchen von Menschen kauern in Bamako an jeder Ecke vor Fernsehern, um die gerade laufende afrikanische Meisterschaft zu verfolgen.

Nach Monaten der Schockstarre begeistert sich der Süden für Frankreichs militärischen Einsatz im Norden. Musiker komponieren Lieder, die die Kampfmoral stärken sollen. In den Straßen trifft man auf Fahnenschmuck. Dort hängen die zwei Trikoloren: das Blau-Weiß-Rot Frankreichs und das Grün-Gelb-Rot Malis, in hübscher Eintracht kombiniert. Nie fühlte sich Mali dem ehemaligen Kolonialherren näher. Am Samstag, dem 16. Tag der „Opération Serval“, fegt die Nachricht durch die Hauptstadt, dass Gao, eine der drei wichtigen Städte im Norden, von französisch-malischen Einheiten erobert worden sei. Der Flughafen und die Brücke von Wabary, der einzige Übergang über den Niger, seien gesichert, verlautbart das Pariser Verteidigungsministerium: „Mehrere terroristische Elemente sind zerstört worden.“

Frankreich hat mittlerweile 3700 Mann im Einsatz, 1900 Soldaten aus dem Tschad und den Ländern der westafrikanischen Misma-Mission sind nun vor Ort. Über den Flughafen von Gao werden weitere Truppen aus dem Niger und dem Tschad direkt in den Norden eingeflogen. Die Westafrikaner haben just angekündigt, ihr Kontingent deutlich zu erhöhen – auf 5700. Der Vormarsch hat enorm an Tempo gewonnen. Gao liegt 1200 Kilometer nordöstlich von Bamako – eine Entfernung, die etwa der Strecke Berlin–Riga (Zürich–Kopenhagen) entspricht. Zugleich rücken französisch-malische Truppen an der Westflanke von Diabaly Richtung Norden vor. Auch Timbuktu liegt nun in Reichweite.

„Wir erfahren keine Solidarität“

Doch das Terrain des Nordens zieht sich noch Hunderte von Kilometern bis Algerien. Die Rückzugsmöglichkeiten scheinen unendlich. Die Haltung der arabischen Staaten zur Rückeroberung Nordmalis ist, gelinde gesagt, indifferent. „Kein islamisches Land ist uns zu Hilfe gekommen“, resümiert Mahmoud Dicko, der oberste islamische Führer Malis. Tunesien, Algerien, Ägypten und das Emirat Katar, dem viele Quellen finanzielle Unterstützung der Islamisten nachsagen, zeigen sich verschnupft wegen der Intervention. Die Organisation für islamische Zusammenarbeit – Mali ist eines ihrer Gründungsmitglieder – fordert jetzt einen Waffenstillstand.

„Wir erfahren keine Solidarität“, klagt Dicko. „Der Islam hat ein Führungsproblem. Der Islam braucht eine neue Vision.“ Der Präsident des Hohen Islamischen Rates in Bamako spendiert eine Fanta aus seinem Kühlschrank und glättet sein Gewand. Routiniert und wendig pariert er die Fragen, mit denen ihn dieser Tage die Weltpresse bestürmt. Europäer, US-Amerikaner, Japaner warten auf den Plastikstühlen vor der schmalen Tür seines Büros geduldig auf Dickos Wortspende. Was hat der Terror im Norden mit Religion zu tun? „Das ist kein Islam“, sagt er energisch, „das ist unmenschlich.“ Radikalisieren sich die Muslime auch in Mali? Der Imam schickt einen bedächtigen Blick durch sein Zimmer. Dann räumt er ein, man habe über die wachsende Zahl von Koranschulen im Land wenig Kontrolle. Die meisten sind in Privatbesitz. Es gebe einen Trend, rügte er kürzlich öffentlich, dass jeder Reiche sich „neben seiner Villa eine Moschee baut“.

Dicko hat in Saudi-Arabien studiert, gehört selbst der strikten Schule der Wahhabiten an. Mit Malis sehr einflussreichen Sufis liegt er regelmäßig über Kreuz. Doch jetzt bricht er eine Lanze für die Demokratie, gibt sich als Patriot. Er ist für den Krieg, für die Einheit der Nation. Und er spottet über den Niedergang all der arabischen Despoten, die ihrem Volk keine Luft, keinen Freiraum ließen. „In jedem arabischen Land kämpft man gegen Terrorismus“, meint der Imam. Er hält lose Kontakte zur Terrorgruppe Ansar Dine. So konnte er letztes Jahr die Freilassung von 160 malischen Soldaten erwirken. Doch eigentlich gebe es nichts zu verhandeln mit den vermeintlichen Glaubensbrüdern, macht er klar. „Der Islam darf nicht für Bedrohung und Intoleranz stehen.“

Die Hauptstadt ist verblüffend entspannt

Der rigorose Islam gewinnt in Malis Süden nur schleichend an Einfluss. Geld etwa ist hier ein starkes Argument. Die wichtigste Hauptstadtbrücke über den Niger trägt den Namen ihres Spenders: König Fahd von Saudi-Arabien. Einschlägige wahhabitische Schriften sind auf dem Markt erhältlich. Tief verschleierte Frauen sieht man selten. Doch die Zahl der jungen Männer, die Verwirrung mit Strenge, schwankende Perspektiven mit besonders starren Glaubenssätzen zu bekämpfen suchen, wächst auch hier. Hin und wieder gibt es Übergriffe auf Clubs in Bamako, das berühmt ist für seine Musik und sein quirliges Nachtleben. So randalierten im September 2011 Jugendliche mit dem Schlachtruf „Allah ist groß!“ in der Bar des Hotels Flamboyant. So etwas ist zwar nicht die Regel, aber auch kein Einzelfall.

„Die Kinder werden in diesen Koranschulen oft allein gelassen“, meint der Jurist Moussa Boubacar Bah, der Jugendbeauftragte des Hohen Rates. Es gibt heftige Debatten und Machtkämpfe innerhalb des Gremiums. Doch scheint man sich einig in der republikanischen Grundüberzeugung, im Geist des Konsenses. Bei jeder Gelegenheit beteuert Imam Dicko seine große Sympathie für die französischen Retter.

Bah ist ein ernsthafter, engagierter Mann mittleren Alters und überzeugter Demokrat. Er weiß von jungen Männern, die gen Norden gezogen sind, um sich den Fanatikern anzuschließen. Doch diesen Umstand spielt er herunter. Auch wollten die Menschen im Norden keine Abspaltung, sagt Bah, ganz im Gegenteil. Und dann zählt er eine lange Reihe von prominenten Namen herunter, die aus dem Norden stammen und die Republik stützten. Er beklagt die Unzahl der Waffen im Norden, meist in den Händen junger Leute, und die Verlogenheit der Islamisten, „die nie etwas sagen, das von Herzen kommt“.

Für eine Hauptstadt im Krieg gibt sich Bamako verblüffend entspannt. Es finden kaum Kontrollen statt, nur das Nachtleben ist ein wenig gedrosselt. Am letzten Donnerstag stand Maouloud an, der Geburtstag des Propheten, den hier Zehntausende zu feiern pflegen. Der Hohe Islamische Rat hat die Party aus Sicherheitsgründen abgesagt. Auch die Große Moschee wird dezent bewacht. Aus dem Nichts baut sich beim Freitagsgebet ein kräftiger Mann in Zivil vor dem Fremden auf. Er fragt nach den Absichten des Gastes. Auf die Gegenfrage nach dem Grund der Neugier lupft er kurz sein Sakko. Ein mächtiges Schießeisen wird sichtbar: „Polizei“, sagt er kurz und knapp.