Marianne Faithfull gastiert bei ihrer „50th Anniversary Tour“ im Stuttgarter Hegelsaal – und beschenkt das Publikum mit einem herausragenden Abend. Da machte es auch nichts aus, dass die Sängerin mit Gehstock auf die Bühne kam.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - So etwas erlebt man auch nicht alle Tage: Unbekümmert schnuppert Marianne Faithfulls Gitarrist am Samstagabend nach dem Konzert die milde Stuttgarter Herbstluft. Vor dem Hegelsaal, eine Flasche Bier in der Hand, sieht er sich die Menschen an, die sich zuvor ihn angesehen haben. Leutselig und frei von der Leber weg entkräftet er etwaige Vermutungen, dass es eine ruinierte Leber sein könne, welche die langjährige Heroinistin Faithfull an einen Gehstock zwingt. Tatsächlich sei es ein böser Sturz im Frühjahr und der daraus resultierende schmerzhaft gebrochene Hüftknochen gewesen. Sie erhole sich aber prächtig, schließlich habe sie ja sogar mit dem Rauchen aufgehört.

 

Und so kommt die britische Sängerin humpelnd und auf ihren Stock gestützt auf die Bühne des mit 1100 Besuchern bestens gefüllten Saals, mit funkelndem Krückenknauf, strahlendem Lächeln und einem leuchtenden Teleprompter. Von ihm muss sie die Texte der satt zwei Stunden füllenden 17 Songs des Abends immer wieder ablesen, was tatsächlich ein Tribut sein könnte, den die 67-Jährige an fünfzig Jahre Tätigkeit im Rock’n’Roll-Business zu zollen hat. Aber das tut dem exzellenten Konzertabend keinen Abbruch. Im Gegenteil, das noble britische Understatement, mit dem sich die Grande Dame zunächst für die Unpässlichkeit entschuldigt, die sie dazu zwinge, die Hälfte des Konzerts sitzend zu absolvieren („Thank you very much for understanding the situation“), und ihre sofort nachgeschobene kecke Bemerkung, dass sich dies beim nächsten Gastspiel gewiss erledigt haben werde, nicht zuletzt die äußerst liebenswerte Art, schaffen eine fast intime Nähe zu der großartigen Sängerin.

„Last Song“ ist der einzige Song der Zugabe

Ihr letztes, sehr berührendes und ebenfalls bewegendes Stuttgarter Konzert liegt schon fünf Jahre zurück, zuletzt bezauberte die Britin das hiesige Publikum beim seinerzeit unglücklicherweise in die Messehallen am Flughafen verlegten Festival Jazz-Open.

„50th Anniversary Tour“ heißt das Motto der gegenwärtigen Tournee, die zu Recht bejubelt, dass die Britin 1964 mit dem von Mick Jagger und Keith Richards komponierten Song „As Tears go by“ ihren ersten großen Erfolg feiern durfte. Marianne Faithfull revanchierte sich bekanntlich fünf Jahre später und schrieb den Stones 1971 den Song „Sister Morphine“, der bald ein halbes Jahrhundert später immer noch integraler Bestandteil fast jedes Rolling-Stones-Konzerts ist.

„As Tears go by“ singt Faithfull am Samstag ziemlich genau zur Mitte des Konzerts, das gloriose „Sister Morphine“ kurz vor dem Ende. Gleich als drittes Stück kommt ihr dritter großer Hit „Broken English“, als vorletztes Lied schließlich „The Ballad of Lucy Jordan“. Wow, so kann man galant-lässig die Dekaden durchstreifen, vom Debüt 1964 über die Weltklasserevanche fünf Jahre später, vom ersten Comeback mit den anderen zwei Songs zehn Jahre später, vom ebenfalls gebotenen „Working Class Hero“ von John Lennon bis hin zum einzigen Song der Zugabe, bezeichnenderweise „Last Song“ tituliert.

Diese Frau hat nach wie vor jede Menge zu sagen

Diesen letzten Song, bemerkt die Faithfull en passant, habe sie mit Damon Albarn geschrieben. Der drei Dekaden jüngere geniale musikalische Kopf (Blur, Gorillaz The Good, the bad and the Queen) zählt ebenso selbstverständlich zu ihren künstlerischen Dialogpartnern, wie es auch schon Metallica (!), Nick Cave, David Bowie und nicht zuletzt Polly Jean Harvey waren.

Nicht zu vergessen wäre allerdings auch Marianne Faithfulls aktuelles Album. „Give my Love to London“ heißt es, mit dem gleichnamigen Titeltrack eröffnet sie den Abend im Hegelsaal, aus ihm streut sie noch weitere Titel ein. Es hat nicht die Klasse des großartigen Vorvorgängers „Easy come, easy go“, aber Songs mit Titeln wie dem ebenfalls dargebotenen „Late Victorian Holocaust“ und das pulsierend-fordernde „Mother Wolf“ machen deutlich, dass diese immer noch sensationell alterslos wirkende Frau nicht über die anstehenden Makrameekurse an der Volkshochschule ihrer Wahlheimat Paris nachdenkt, sondern nach wie vor jede Menge zu sagen hat.

„I’m really fucked up“, raunt die Marianne Faithfull schließlich gegen Ende des Abends ins Publikum, das sich gerade so behaglich bei diesem wunderbaren Liederabend eingerichtet hat. So wie es von ihr immer wieder aus einer vermeintlichen Harmonie herausgerissen wird, der die extraordinäre Künstlerin stets ihre Makel ankreidet. Das absolut verblüffende an der wandlungsfähigen Sängerin und Schauspielerin bleibt jedoch die Konstanz ihrer Vokalqualitäten. Das 36 Jahre alte Stück „Broken English“ klingt im Hegelsaal, als hätte sie es erst gestern eingesungen, „Sister Morphine“ wie soeben dem 1965 veröffentlichten Album entsprungen. Was Marianne Faithfull auch immer im Verlauf eines phasenweise enorm selbstzerstörerischen Lebens eingebüßt haben mag – ihre Stimme jedenfalls nicht.

Er sei sehr positiv von der Soundqualität überrascht gewesen, bemerkt der Gitarrist vor der Saaltür noch, und auch damit hat er Recht; Beethoven- und Hegelsaal eignen sich für hochwertige Musikkonzerte nun mal weitaus besser als Rockschuppen. Und mag die Gitarre auch ein wenig zu laut ausgesteuert gewesen sein, so klang sie dennoch unglaublich luzide. Die Kompagnons an Keyboard, Bass und Schlagzeug schließlich grundierten dezent einen herausragenden Konzertabend, dessen Wiederauflage wir herzlich gerne entgegengesehen.