Ein Jahr nach dem tödlichen Erdrutsch in der Marienschlucht am Überlinger See ist die Unglücksstelle immer noch gesperrt. Und niemand möchte die Verantwortung übernehmen, den beliebten Wanderweg wieder zu öffnen. Traut sich vielleicht der Tourismusminister?

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Allensbach - Dass etwas Schlimmes passiert sein musste an jenem 6. Mai vor einem Jahr, sei ihr gleich klar gewesen. Andrea Friedrich hatte mit dem Motorschiff Herzog Ludwig in Bodman (Kreis Konstanz) festgemacht, da stand da schon der Rettungsdienst. „Die haben uns gesagt, dass wir die Marienschlucht nicht mehr anfahren sollen.“ Nicht an diesem Abend, nicht am nächsten Tag und vermutlich auch die ganze Woche nicht. Eine Erdlawine war abgegangen, eine 72-jährige Frau war verschüttet und getötet worden. Ihr 74-jähriger Begleiter konnte sich schwer verletzt retten. Seither ist die wild-romantische Schlucht, die auf einem steilen Steg vom Südufer des Überlinger Sees zur Burgruine Kargegg führt, gesperrt. Andrea Friedrich und ihr Schiffsbetrieb spüren das: Um 30 Prozent sei die Zahl der Fahrgäste zurückgegangen.

 

„Lebensgefahr“, steht in roter Schrift auf einem Schild am Eingang zum Uferweg, auf dem bis zur Schließung jährlich 150 000 Wanderer in Richtung Schlucht spazierten. Die Bürgermeister der angrenzenden Gemeinden haben das Schild anbringen lassen und mannshohe Absperrgitter aufgestellt. 15 Monate nach dem Unglück ist die Wahrscheinlichkeit auf eine baldige Wiedereröffnung nicht gestiegen. Grund ist ein Gutachten, das ein Mitarbeiter des Geologischen Landesamtes in Freiburg nach einjähriger Bearbeitungszeit jetzt vorgelegt hat.

Keiner weiß, wann es wieder los geht

Es habe sich bei dem Erdrutsch um eine „nicht vorhersehbare, spontan abgelaufene und sich nicht vorab ankündigende murgangartige Massenbewegung gehandelt“, heißt es darin. Tatsächlich hatten Sachverständige des Landesamtes anderthalb Monate vor dem Unglück die geologischen Verhältnisse noch für sicher befunden. Dann aber regnete es sechs Wochen lang. Das Erdreich geriet ins Rutschen. Dennoch: eine beschränkte Sperrung lediglich nach starken Niederschlägen sei keine Lösung, so der Gutachter. Derartige Zeitfenster seien „letztlich nicht konkretisierbar“.

Noch weniger Optimismus verbreitet ein juristisches Gutachten vom Juni 2016, das die Erkenntnisse des Landesamtes bewertet. Demnach könnten nach einem neuerlichen Unglück die „Tatbestandsvoraussetzungen der Amtshaftung vorliegen“, stellt der Heilbronner Fachanwalt Ulrich Kaiser fest. Und dabei würde es laut Kaiser dann längst nicht nur um eine bloße Fahrlässigkeit gehen. Man müsse vielmehr damit rechnen, dass „die Strafverfolgungsbehörden in diesem Falle grob fahrlässige oder gar vorsätzliches Verhalten“ unterstellen müssten – bei einer Körperverletzung oder Tötung kein Pappenstiel. „Da stehe ich schnell mit einem Bein im Gefängnis“, sagt der junge Allensbacher Bürgermeister Stefan Friedrich (parteilos) – jeder einzelne Gemeinderat allerdings ebenso. Zudem könnte ein Unglück den Ruin der 7000-Einwohner-Gemeinde bedeuten. In einem solchen Fall seien die Schäden nicht abgedeckt, heißt es in einer Aktennotiz der Badischen Gemeindeversicherungsanstalt.

Selbst der Baron will die Schlucht erhalten

Schon im Jahr 2005 hatte es in der Schlucht einen Erdrutsch gegeben. Damals war der Steg anschließend für 300 000 Euro erneuert und der Hang abgesichert worden. Auch diesmal seien solche Maßnahmen denkbar. Dass sie kostspielig sein dürften, sei dabei nicht einmal das größte Problem, sagt Bürgermeister Friedrich. Die Marienschlucht gilt als Naturerlebnis, da sei es widersinnig, großflächig den Bewuchs zu stutzen, um Fangnetze anzubringen, deren Halterungen tief ins Erdreich gerammt werden müssten.

Die Lage scheint aussichtslos. Aufgeben will allerdings niemand. „Das ist das touristische Highlight am Überlinger See“, sagt der Baron Johannes von Bodman, dessen Ururgroßvater die Schlucht im Jahr 1897 als Geschenk für seine Schwiegertochter Maria zugänglich machen ließ. Im Grunde, findet Bürgermeister Friedrich, gehe jeder Hochgebirgswanderer mindestens ein ebenso hohes Risiko ein wie ein Besucher der Marienschlucht. Er hofft nun auf die Hilfe der Landesregierung. „Haftungsfragen sind ja auch Definitionsfragen“, sagt Friedrich. Vielleicht kann ja Guido Wolf (CDU) helfen: wenn nicht als Tourismusminister, dann vielleicht als Justizminister.