Die Performancekünstlerin Marina Abramovic wird siebzig. In ihrer Austrahlung mischen sich die Charakterzüge von Operndiva, Kampfsportlerin und Hohepriesterin.

Stuttgart - In ihrer Kunst geht es um Extreme. Um alles, was weh tut: Erschöpfung, Schmerz, Lebensgefahr. Selbst wenn sie manchmal nur dasitzt, tut sie das über Wochen, sieben Stunden täglich, ohne aufzustehen, auch nicht zum Toilettengang. So 2010 im New Yorker Museum of Modern Art, wo sie jedem Besucher ihrer Ausstellung, der ihr gegenüber Platz nahm, stumm in die Augen schaute. Ein lebendes Kunstwerk im Blickkampf mit dem Betrachter.

 

Da war Marina Abramovic schon längst ein internationaler Star, was umso mehr überrascht, als der Schwerpunkt ihres Schaffens in der Performance liegt. Ein Genre, das überhaupt keine materiell greifbaren Werke hinterlässt, die aufgehängt, gekauft und gesammelt werden können. Allein in Video und Fotografie wird Abramovic’ Oeuvre dokumentarisch weiterleben. Diese Medien aber vermitteln nur wenig von der Atmosphäre ihrer Liveauftritte, bei denen die Nerven der Zuschauer oft bis zum Zerreißen gespannt sind.

Sie tanzte bis zum Umfallen, ritzte sich fünfzackige Sterne auf den Bauch oder schlug sich die Haut mit einer Peitsche blutig. Messer, Pfeil und Bogen gehören in ihrem Theater der existenziellen Bedrohung ebenso zur Requisite wie geladene Pistolen. Eine feste Dramaturgie besitzt keine der Aktionen, das Ende ist offen, von ihr nicht mehr kontrollierbar. „Wie Russisch Roulette“ sei ihre Arbeit, fasst die Künstlerin in ihrer kürzlich erschienenen Autobiografie („Durch Mauern gehen“, Luchterhand Verlag, 28 Euro) zusammen.

An diesem Mittwoch wird die Grande Dame des inszenierten Körpers siebzig Jahre alt. Als Tochter eines Generals und einer Majorin wuchs Marina Abramovic in Belgrad auf, studierte an der dortigen Akademie und kam über Konzeptkunst und Klanginstallationen zur Performance. Viele ihrer Frühwerke entstanden im Duo mit dem langjährigen Lebenspartner Ulay (Frank Uwe Laysiepen). Am bekanntesten aus dieser Zeit ist das Mammutprojekt „The Lovers“, bei dem beide von den Enden der Chinesischen Mauer aufeinander zuwanderten, sich umarmten und anschließend für immer trennten. (So zumindest Abramovic’ Darstellung, der Ulay später widersprach.)

Von den Solo-Arbeiten hat sich dem Bildgedächtnis keine derart eingeprägt wie die Performance „Balkan baroque“, mit der sie auf der Venedig-Biennale 1997 den Goldenen Löwen gewann. Um an die Kriege in ihrer ehemaligen Heimat zu erinnern, schrubbte sie vier Tage lang in einem weißem Kleid blutige Rinderknochen, dazu sang sie jugoslawische Totenlieder.

Operndiva, Kampfsportlerin und Hohepriesterin

Bereits in den 60er Jahren hatten die Wiener Aktionisten den traditionellen Kunstkontext einer Schocktherapie aus Nacktheit und Selbstverletzung unterzogen und damit auch den Körper in den Fokus gerückt. Abramovic aber geht über den simplen Tabubruch hinaus. Ihr Oeuvre inszeniert nicht nur Verletzbarkeit und Sterblichkeit, sondern auch die Angst davor. Die physische Unmittelbarkeit des Leibes wird zur Trägersubstanz für ein Psychodrama, das immer wieder dafür sorgt, dass Zuschauer hinauslaufen oder zu weinen beginnen. Ihre Aufführungen ziehen jeden hinein in den magischen Raum, der sich um die Künstlerin herum bildet. Selbst wer Abramovic nur von Fotos kennt, zweifelt keine Sekunde an ihrer Ausstrahlungskraft, in der sich Charakterzüge von Operndiva, Kampfsportlerin und Hohepriesterin zu mischen scheinen.

Die Künstlerin kooperierte mit so unterschiedlichen Größen wie Lady Gaga, dem Rapper Jay Z oder dem Architekten Rem Kolhaas, der ihr ein ehemaliges New Yorker Theatergebäude zum Performance-Center umbaute. Nicht zuletzt beeinflusste sie als Professorin an den Akademien in Hamburg, Berlin und Braunschweig eine ganze Generation junger Künstler. Und ihr Schaffen faszinierte auch immer wieder Regisseure, darunter Robert Wilson, mit dem sie ein Bühnenstück erarbeitete. Trotz solcher Ausflüge in Nachbargenres hört Abramovic nicht auf zu betonen, dass Performance und Theater zwei verschiedene Dinge sind: „Im Theater ist das Messer kein Messer und das Blut nur Ketchup.“