Der Sportartikelhersteller Adidas erntet für eine pietätlose E-Mail an Teilnehmer des Boston Marathons Spott im Netz und muss wie andere prominente Vorbilder Abbitte leisten. Ein Experte rechnet mit einem Anstieg solcher Marketing-Pannen.

Stuttgart - Übermut oder pure Dämlichkeit?“, fragt einer der Kommentatoren im Netz. Gemeint ist eine Kommunikationspanne von Adidas, die am Mittwoch für Aufregung und einen Shitstorm im Netz gesorgt hatte. Der Sportartikelhersteller hatte eine Mail an die mehr als 26 000 Teilnehmer des Boston-Marathons vom Montag mit der Betreffzeile überschrieben: „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben den Boston Marathon überlebt“ (im Original: „Congrats, you survived the Boston Marathon“). Ein pietätloses Missgeschick, schließlich waren am 15. April 2013 bei Bombenanschlägen auf den ältesten Stadtmarathon der Welt drei Menschen getötet und mehr als 260 verletzt worden. Die Verantwortlichen reagierten am Mittwoch mit einer öffentlichen Entschuldigung per Twitter: „Es tut uns unglaublich leid. Wir entschuldigen uns zutiefst für unseren Fehler.“

 

Als „unangemessen und unsensibel“ bezeichnet Kai-Uwe Hellmann die Panne von Adidas. Hellmann ist Konsumsoziologe an der TU Berlin und Verfasser zahlreicher Bücher in diesem Bereich. Seiner Meinung nach müsse man sich künftig auf noch mehr derartige Verbalausfälle einstellen. Der Grund sei die Informationsflut und hohe Geschwindigkeit im digitalen Zeitalter. Hellmann nimmt den oder die Verantwortlichen, die er auf höchstens 30 Jahre schätzt, sogar ein Stück weit in Schutz. Die Unternehmen stünden vor einem Dilemma: Auf der einen Seite bräuchten sie junge, netzaffine Mitarbeiter, die technisch versiert und in der Lage seien, die digitalen Kanäle schnell zu bedienen. Doch oft genug mangele es gerade diesen Beschäftigten an der nötigen Lebenserfahrung, um bestimmte Fettnäpfchen zu umgehen. „Sie sind überfordert und machen das ohne einen sechsten Sinn für bestimmte Fakten und Zusammenhänge“, sagt Hellmann.

Zweifelhafte Bezüge zum Nazionalsozialismus

Anders ist es wohl kaum zu erklären, dass die Liste der Firmen, deren Marketingabteilungen schon mit dem Slogan „Jedem das Seine“ oder einer abgewandelten Form geworben und sich dabei die Finger verbrannt haben. Sie reicht von Tchibo und Esso über Nokia und Rewe bis zu Burger King. Auch die Werbe-Macher von Fanta bewiesen 2015 mangelnde Geschichts- oder zumindest Mathematikkenntnis, als sie aus Anlass des 75-jährigen Jubiläums der Getränkemarke ein Revival der Fanta Classic ausriefen. Im dazugehörigen Werbetrailer heißt es: „Diese deutsche Ikone wird 75 Jahre alt. Und um das zu feiern, bringen wir das Gefühl der guten alten Zeit zurück.“ Zurück ins Jahr 1940 (!) also. Später distanzierten sich die Verantwortlichen von der unglücklichen Formulierung.

In diese Kategorie fällt auch eine Werbeanzeige von Eon, die 2006 auf einer Lokalseite der Lüneburger Landeszeitung abgedruckt wurde. In der Anzeige warb der Energieversorger mit dem Slogan „Eon sorgt schon heute für das Gas von morgen!“ Um die Anzeige herum stand ein redaktioneller Beitrag über die Deportation und Ermordung von Sinti aus der norddeutschen Stadt im Dritten Reich. Überschrift: „Von Lüneburg nach Auschwitz“. Die Schuld lag allerdings bei dem Zeitungsmachern, die Text und Anzeige achtlos auf derselben Seite platziert hatten.

Eigener Chef bringt US-Modekette in Verruf

Manchmal sind es weder die eigenen Marketing-Leute, noch beauftragte Werbeagenturen, die ein Unternehmen in die Schlagzeilen bringen – sondern der Chef selbst. Dem Boss der US-Modekette Abercrombie und Fitch, Mike Jeffries, einem für seine verbalen Ausfälle bekannten Manager, gelang dies 2006 in einem Interview mit folgender Aussage: „In jeder Schule gibt es coole und beliebte Leute und nicht so coole. Ich gebe zu, wir wollen, dass das attraktive All-American-Kid unsere Sachen trägt.“ Im Netz erntete Jeffries nicht nur kritische Kommentare, es formierten sich auch originelle Gegenkampagnen. Dafür fotografierten sich Menschen in Abercrombie-Hemden und hielten Schilder mit der Aufschrift: „Zu arm für dieses Shirt“ oder „Zu fett für dieses Shirt“.

Auch sexistische Kampagnen sind namhaften Konzernen bereits auf die Füße gefallen. So warb etwa die Fluggesellschaft Air Berlin vor ein paar Jahren mit einer blonden Frau mit Einkaufstasche zwischen den Zähnen und dem Spruch „Teuer wird’s nur, wenn Sie Ihre Frau mitnehmen.“ Der Versandhändler Otto nahm 2013 nach einem viralen Sturm der Entrüstung ein T-Shirt für Mädchen aus dem Sortiment. Darauf stand der Spruch „In Mathe bin ich Deko“. Wenn mit stereotypen Rollenbildern oder sexistischen Anspielungen geworben wird, dürfte in vielen Fällen schon ein Aufschrei einkalkuliert sein. Es geht vor allem um Aufmerksamkeit – selbst wenn sich manche Kunden danach empört abwenden.

Benetton und Sixt provizieren mit Kampagnen

Der Konsumsoziologe Hellmann bezeichnet das als „kalkuliertes Risiko“. Er nennt Beispiele für Kampagnen, die die Grenzen zur Geschmacklosigkeit oder Legalität ausgetestet haben – und dabei recht erfolgreich waren: Unternehmen wie Benetton mit früheren provokanten Fotokampagnen oder der Autovermieter Sixt seien sehr professionell vorgegangen. „Das waren schon immer eher die Ausnahmen, und sie werden es auch bleiben“, sagt Hellmann. Was man stattdessen vermehrt sehen werde, seien ungeplante Missgeschicke wie nun bei Adidas. „Diese Unachtsamkeit, diese negativen Zufallstreffer, dieses vom Zeitgeist Getriebene ohne Qualitätskontrolle, das wird zunehmen.“

Egal ob kalkulierter oder zufälliger Ärger, die Konsequenzen seien vergleichsweise gering: „Es entsteht oft kein bedeutender Schaden, wenn es bei einem einzelnen Ereignis bleibt“, so Hellmann. Vieles, was heute die Gemüter im Internet erregt, sei in ein paar Tagen oder Wochen vergessen. Ohnehin müsse eine Kommunikationspanne erst einmal als solche wahrgenommen werden. „Nicht alles, was schief geht, erzeugt gleich einen Shitstorm.“