Martin Schulz kann auf die SPD zählen – wieder gab es 100 Prozent, diesmal fürs Wahlprogramm. Der Kanzlerkandidat vertraut ab sofort nicht mehr seinen Beratern, sondern nur noch seinem Instinkt.

Dortmund - Man sagt, die Menschen jenseits des Polarkreises verfügten über jede Menge Wörter für Schnee. Und so wäre es auch nicht verwunderlich, wenn die Dortmunder ein paar zusätzliche Begriffe für „bröckelnden Beton“ in petto hätten. Die Grautöne der tief hängenden Wolkendecke wetteifern mit denen maroder Messehallen um den Preis größtmöglicher Tristesse. Hier also soll die Wiederauferstehung der SPD gelingen. Die Partei macht sich es wirklich nicht leicht.

 

Wobei: Die Idee, in Dortmund mit der Verabschiedung des Wahlprogramms Fahrt für die letzten drei Monate aufnehmen zu wollen, war ja gar nicht so übel. Hier, in der Westfalenhalle, hatten sie schon das Programm des Urnengangs 1972 verabschiedet, jener „Willy-Wahl“, die heute noch älteren Genossen Tränen der Rührung in die Augen treiben kann. Und schien es nicht im Frühjahr, als sie diesen Ort aussuchten, noch wie ein Naturgesetz, dass Hannelore Kraft als Verteidigerin sozialdemokratischer Dominanz an Rhein und Ruhr hier auftreten würde? Pustekuchen, Kraft ist Geschichte, die „Herzkammer“ der Sozialdemokratie steht still – Nieselregen statt Rückenwind.

Der Einheizer ist bekannt und ein seltener Gast auf Parteitagen: Gerhard Schröder

Aber wer die SPD schon abschreibt, hätte sich am Abend vor dem Parteitag in der Kampfbahn „Rote Erde“, gleich neben dem Westfalenstadion, eine Currywurst mit Pommes genehmigen sollen. Trotz war da zu spüren, die „Jetzt-erst-recht-Mentalität“ der ältesten Partei Deutschlands ist legendär. Sie war ja schon oft am Boden und ist dann wieder aufgestanden, die „alte Tante SPD“, warum nicht auch diesmal. Das ist vielleicht das Erstaunlichste an diesen völlig missratenen Monaten von März bis Ende Juni: dass keine Messer gewetzt werden, kein Streit aufkommen will, okay, ein wenig Gezerre um die Vermögensteuer, das gehört zum Ritual. Aber Schulz ist nach wie vor sakrosankt. 5000 Gäste füllen einen Tag später die Ränge der Westfalenhalle, um eine Stunde verzögert sich der Beginn. Zu viele sind gekommen, zu wenige Schleusen sind geöffnet. Als Schulz dann schließlich einzieht, bejubeln sie ihn im weiten Rund minutenlang wie einen Popstar, schwenken SPD-Fahnen.

Sie haben einen recht bekannten Einheizer organisiert. Gerhard Schröder steht bereit, ein seltener Gast auf Parteitagen nach dem Ende seiner Kanzlerschaft. Siegeswillen soll er ausstrahlen; ein Unterfangen, das nicht ohne Risiko ist. Die Wunden seiner Agenda 2010 sind kaum erst verheilt. Aber an der Wahlkampffront kennt er sich nun mal bestens aus, und Selbstzweifel sind nicht seine Stärke. Deshalb sieht die Partei heute in ihm den Mutmacher, nicht den Geburtshelfer der Linkspartei, als habe es die Schlachten der Vergangenheit nie gegeben.

Fast eine Versöhnung: die Halle dankt Schröder mit tosendem Applaus

Schröder erinnert an 2005, als er aussichtslos zurückzuliegen schien, und dann doch noch zur Union aufschloss. Es habe knapp nicht mehr gereicht, okay, „aber wir haben gekämpft und wir haben aufgeholt, und was damals ging, das geht heute auch“. Das Programm sei ausgewogen, getragen von der Erkenntnis: „Wir können nur das verteilen, was vorher erwirtschaftet worden ist.“ Das unterscheide die SPD auch „von der Linkspartei mit ihren dubiosen Forderungen“. Diese verkappte Absage an Rot-Rot-Grün hindert Schröder freilich nicht, mit dem Schlachtruf südamerikanischer Revolutionäre zu schließen: „Venceremos“ – zu Deutsch: Wir werden siegen. Die Halle dankt es ihm mit tosendem Applaus, fast scheint es in diesem Moment, als hätten sich Schröder und die SPD endlich versöhnt.

Die Parteitagsregie hat weitere Symbole der Einigkeit parat. Die Juso-Chefin Johanna Uekermann tritt überraschend ans Rednerpult, eine junge Wilde in der SPD, links bis zum demokratischen Anschlag. Und auch auf diesem Parteitag war nicht klar, wie sie sich präsentiert, denn bei der Rente und beim Spitzensteuersatz hätte Uekermann gern tiefere Kerben im Wahlprogramm hinterlassen und der von Schulz eingeforderte Verzicht auf die Forderung nach einer Vermögensteuer hätte in früheren Zeiten die Jusos auf die Barrikaden getrieben. Aber Uekermann will zeigen, dass sie, und mit ihr der linke Flügel, den Kampf ums sozialistische Paradies auf die Zeit nach der Wahl vertagen will. Deshalb findet sie sich damit ab, dass nach der Wahl eine Parteikommission sich des Themas „Vermögensteuer“ annehmen soll, aber das Wahlprogramm von dieser Forderung verschont bleibt. Sie stehe hier nicht nur als Vorsitzende der Jungsozialisten: „Ich stehe hier als junge Frau.“ Und sie fügt an: „Meine Generation hat Angela Merkel satt.“ Deshalb müsse Martin Schulz Kanzler werden. Ausgerechnet neben Schröder nimmt sie nach diesem Auftritt Platz, dem Genossen der Bosse. Der war zwar auch mal Juso-Chef und galt als Linker, aber das war in einem ganz anderen Jahrhundert.

Martin Schulz hört ab sofort nicht mehr auf Berater, sondern auf seine Intuition

Dann ist 12 Uhr mittags, High Noon in der Westfalenhalle. Zeit für Martin Schulz. Höchste Zeit, den Versuch zu starten, die Aufholjagd zu beginnen. 15 Prozentpunkte liegt die SPD hinter der Union. Klar, dass etwas passieren muss. Schulz hat sich vorgenommen, wieder auf seinen Bauch zu hören, nicht auf Berater, nicht auf Spin-Doktoren, Intuition statt Befragung von Fokusgruppen. Den Leuten im Willy-Brandt-Haus dürfte deshalb angst und bange werden, aber ihm ist das egal. Hat doch alles nichts gebracht, was man ihm eingeflüstert hat, die Bitte um Zurückhaltung in den Landtagswahlkämpfen, die gedämpfte Tonlage in europapolitischen Fragen, alles Nonsens, so sieht er es mittlerweile. Er will ab sofort bei sich bleiben, und wenn es dann am Ende nicht reicht, bitte sehr. Schluss also auch mit vornehmer Zurückhaltung gegenüber der Union. Auf sie mit Gebrüll!

Merkels Vorliebe, möglichst lange nicht zu sagen, was sie will, schwäche die Demokratie. Zwei Wahlen habe sie damit erfolgreich bestritten, ein drittes Mal aber werde er, Schulz, ihr das aber nicht durchgehen lassen. Systematisch wolle die Union „die Debatte über die Zukunft des Landes verweigern“. CDU und CSU nähmen sogar „billigend in Kauf, dass die Menschen nicht zur Wahl gehen“. Das „mag man in Berliner Kreisen vielleicht asymmetrische Demobilisierung nennen, ich nenne das einen Anschlag auf die Demokratie“.

Dem Kanzlerkandidaten bleibt nur noch die Flucht nach vorne

Starker Tobak ist das, aber dort vorne steht ja auch ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat. Und deshalb wirkt Schulz erstmals seit Langem, als sei er mit sich im Reinen, so wie zu Beginn seiner Kanzlerkandidatur. Ein ums andere Mal entfernt er sich vom Redemanuskript, redet lieber ausführlicher als geplant über den Respekt, der jedem Menschen gebührt, egal ob Chirurg oder Busfahrer. Er sagt nicht viel Neues, sein Programm ist ja bekannt, es nimmt Kurs auf die politische Mitte, ganz nach Schröders Geschmack. Bildung, Investitionen, ein starkes Europa, scharfe Kritik an US-Präsident Donald Trump. Nichts, was die Sorge nähren kann, es drohte Deutschland mit seiner Wahl ein böses sozialistisches Erwachen. Aber er sagt es mit dem Pathos der Überzeugung, mit der Entschlossenheit eines Mannes, dem nur noch die Flucht nach vorn bleibt.

Immer wieder geißelt er die Inhaltsleere der Union, die in Zeiten epochaler Veränderungen den sozialen Zusammenhalt gefährde. „Wer heute versucht, sich ohne Kompass durchzuwursteln, der verliert die Richtung und gefährdet so die Zukunft unseres Landes.“ Nach einer Stunde zieht er sein Sakko aus, ihm ist warm geworden, befeuert vom Zuspruch, den er erfährt. Immer wieder wird die Rede von Beifallsstürmen unterbrochen. Noch einmal beschwört er die europäische Einheit und den Gestaltungsanspruch der Sozialdemokratie, die Umwälzungen gestalten zu wollen, die Digitalisierung und Globalsierung mit sich bringen. „Für diese Idee habe ich mein ganzes Leben gekämpft, für diese Idee lohnt es sich auf die Straße zu gehen, für diese Idee will ich Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.“ So endet er. Getragen von Applaus, der auch nach zehn Minuten nicht enden will, befeuert von Martin-Sprechchören, bestätigt durch die einstimmige Annahme seines Wahlprogramms, das keineswegs unumstritten war. Mag sein, dass diese SPD die Wahl verliert, aber wenn, dann diesmal Seit an Seit.