Schon haben Deutschland und zuletzt Schweden wieder Grenzkontrollen eingeführt. Werden Grenzschließungen und ein Ende des offenen Schengenraums die nächsten Schritte sein, wenn die Flüchtlingszahlen nicht bald reduziert werden können?
Temporäre Grenzkontrollen sind verkraftbar und werden auch durchgeführt. Wir müssen keinen hysterischen Anfall bekommen, wenn ein Land versucht, mehr Ordnung hereinzubringen. Im Moment aber, wo wir dauerhaft die Freizügigkeit der EU-Bürger beschränken, ist das Schengensystem tot – und unsere Wirtschaft bedroht.
Wie meinen Sie das?
Das Schengener Abkommen betrifft eben nicht nur die Freizügigkeit von Personen, sondern auch von Gütern und Waren. Wer nur an die Transporte denkt, die von den Häfen in Rotterdam und Antwerpen nach Deutschland fahren, um eine Just-in-Time-Produktion zu ermöglichen, weiß, welch weitreichende Auswirkungen auf den Binnenmarkt Einschränkungen in diesem Bereich hätten. Diejenigen, die eine Lösung der Flüchtlingskrise verweigern, spielen – und ich weiß nicht, ob sie sich darüber im Klaren sind – auch mit der ökonomischen Stabilität und Zukunft Europas.
Ihre Kritik – vor einigen Tagen haben Sie die polnische Regierung mit dem System von Wladimir Putin verglichen – sorgt in Warschau für viel Unmut. Heizt das die nationalen Abwehrreflexe nicht noch stärker an und macht Lösungen noch unwahrscheinlicher?
Den nationalen Abwehrreflex gibt es ja immer. Manche politische Gruppierungen attackieren und beleidigen jeden – und wenn man sie kritisiert, ist das eine Einmischung in nationale Angelegenheiten. Dass sich zum Beispiel kaum jemand über die Aussage aus Warschau aufgeregt hat, nun gehe die Kultur der vegetarischen Fahrradfahrer zu Ende, ist so ein Beispiel dafür. Zu meinen Aussagen stehe ich. Wenn eine Partei ihren Wahlsieg als Mandat interpretiert, den Staat so umzubauen, dass er der eigenen Partei zupass kommt – wie soll man so etwas nennen?
Was werden Sie der polnischen Ministerpräsidentin sagen, wenn sie in der nächsten Woche nach Straßburg kommt?
Dass sie eng mit der Kommission kooperieren soll. Dass wir überprüfen, welche Regeln mit europäischem Recht vereinbar sind und welche nicht.
Das Europaparlament kann in vielen Kernfragen der Krise wie der Verteilung von Flüchtlingen nur mahnen, aber nicht wirklich mitentscheiden. Wie sehr frustriert Sie die Zuschauerrolle beim Zerfall der EU?
Wir als Europaparlament schauen ihm keinesfalls tatenlos zu. Wir spielen unsere Rolle und haben – wenn es sein musste – auch im Eilverfahren entschieden. Aber wir sind auf unseren Mitgesetzgeber, den Rat der Regierungen, angewiesen. Und die können sich seit einiger Zeit leider auf fast gar nichts mehr einigen. Die EU ist kein Bundesstaat, sondern ein Staatenverbund. In einem Staatenverbund tragen die Regierungen der Mitgliedstaaten eine besondere Verantwortung für den Erfolg der Gemeinschaft. Einige zeigen aber am Erfolg der Gemeinschaft sichtlich weniger Interesse als an ihren nationalen Interessen. Damit rütteln sie an den Grundfesten der Union.