Der Bestsellerautor Martin Suter nimmt am Sonntag den Literaturpreis des Stuttgarter Wirtschaftsclubs entgegen. In seinem neuen Thriller „Montecristo“ beschreibt er die Finanzwelt als skrupellose Versammlung.

Stuttgart - Martin Suter wirft der Wirtschaft ungehemmtes Profitstreben vor. Ein System ohne sozialen Gedanken könne nicht funktionieren, sagt der 67-Jährige, siehe VW. Berührungsängste mit Managern hat er trotzdem nicht.

 
Herr Suter, stimmt es eigentlich, dass der Werbeslogan für eine Bank „Lassen Sie Ihr Geld für sich arbeiten, Sie arbeiten schließlich auch für Ihr Geld!“ von einem jungen Werbetexter namens Martin Suter stammt?
Ja, das muss ich zu meiner Schande gestehen. Ich fand damals einfach die Formulierung gut, und viel mehr habe ich mir dabei nicht überlegt.
Was würde der Videojournalist Jonas Brand, der Held Ihres neuen kapitalismuskritischen Romans „Montecristo“ zu diesem Werbeslogan sagen?
Der Held von „Montecristo“ ist ja auch einer, der nicht seinen Traumberuf ausübt und stattdessen eine kommerzielle Tätigkeit wahrnimmt. Deswegen hätte er vielleicht Verständnis.
In diesem Buch beschreiben Sie die Finanz- und Bankenwelt als zynische Versammlung, die über Leichen geht. Entspringt diese Szenerie Ihrer Fantasie oder ihrer Recherche?
Ich habe die Geschichte erfunden, aber ich habe wie immer versucht, sie in der Nähe der Wahrscheinlichkeit anzusiedeln. Es ist nicht so, dass ich recherchiert hätte und Dinge gefunden hätte, die solche Vertuschungen und Morde belegen. Aber es würde mich auch nicht überraschen. Fiktion hinkt ja der Wirklichkeit oft hinterher: Wer hätte vor ein paar Monaten gesagt: „VW hat Millionen von Fahrzeugen mit einer Schummelsoftware ausgestattet“? Ich kann ja nicht die Bankenwelt als eine Versammlung von Konfirmanden beschreiben: Die Finanzkrise, unter der wir immer noch leiden, hat ja mit der Skrupellosigkeit der Banken zu tun.
Sie haben aber trotzdem kein Problem damit, am Sonntag den mit 5000 Euro dotierten Literaturpreis des Stuttgarter Wirtschaftsclubs anzunehmen, oder?
Ich habe ja 15 Jahre lang „Business Class“ geschrieben, eine Kolumne, die sich über die Manager lustig gemacht hat. Und die tollsten und lukrativsten Lesungen wurden immer von Managern oder Wirtschaftsberatungsfirmen ausgerichtet. Es ist ein Phänomen der Satire, dass die, die gemeint sind, sich nie angesprochen fühlen. Das ist das dankbarste Publikum. Mit dem Preis habe ich kein Problem: Ich finde es ein gutes Zeichen, dass die Wirtschaft der Kultur gegenüber ein bisschen Wiedergutmachung betreibt. Da darf man nicht zu viele Berührungsängste haben, solange das Produkt der Kunst sich den Bedürfnissen derer, die man kritisiert, nicht anpasst.
Sie haben neulich in einem Interview die Ausrichtung der Wirtschaft auf den maximalen Gewinn für die Aktionäre als Fehler bezeichnet. Sind Sie Sozialist?
Wenn das einzige Kriterium eines Unternehmens das ist, dass es möglichst viel Gewinn für die Teilhaber abwirft, dann kann das nicht funktionieren. Ich habe immer noch die altmodische Vorstellung, dass ein Unternehmen unter anderem dazu dient, möglichst viele Leute in Brot und Arbeit zu halten. Klar, das ist nach der zweiten oder dritten industriellen Revolution, wo immer mehr Leute durch Computer ersetzt werden, kein erstes Ziel der Wirtschaft mehr. Aber dem sozialen Frieden hat es sicher mehr gedient, als wenn man die Unternehmen darauf ausrichtet, dass möglichst wenige Leute möglichst viel Geld haben. Ich bin kein Kommunist, aber ich finde, dass kein System funktionieren kann, ohne den sozialen Gedanken möglichst hochzuhalten.
Auf welche Weise könnte dieser soziale Gedanke verwirklicht werden?
Wenn ich das wüsste, würde ich eine Partei gründen. Aber es wäre schon gut, wenn man eine Art Anstandsgrenze für Gewinne einführen würde. Das Geld müsste wieder investiert werden. Die Unternehmen sind ja nicht mehr daran interessiert, wunderbare Produkte oder tolle Dienstleistungen anzubieten, sondern das Produkt besteht aus immer mehr Geld. Man sieht das bei VW: Das Geld, das die jetzt bis fast zum Ruin bezahlen müssen, hätten sie besser in die Technologie investiert, damit sie weniger Schadstoffe ausstoßen oder vielleicht gar keine mehr.
Wie schätzen Sie die Möglichkeiten der Kunst ein, auf ein derartiges Programm „Qualitätsverbesserung statt Gewinnmaximierung“ einzuwirken?
Ich glaube nicht daran, dass die Kunst die Welt verändern kann. Sie kann die Welt nur reflektieren. Die Leserschaft meiner „Business Class“-Kolumnen bestand zu einem sehr großen Teil aus Vorständen und Managern. Am Ende dieser 15-Jahre-Kolumne begann gerade die Finanzkrise.
Ist das nicht frustrierend für einen Künstler?
Ungefähr nach der Konfirmation habe ich aufgehört, nach dem Sinn des Lebens zu forschen. Damit zu leben, Sinnloses zu tun, ist etwas, das viel mit Kunst zu tun hat.
In Ihrem Roman „Montecristo“ ist die Rede von einer Seifenblase, in der sich die Akteure so bewegen, dass sie sie keinesfalls zum Platzen bringen. Ist Ende November 2015 die reale Seifenblase nicht längst geplatzt?
Sie schwebt immer noch, obwohl man Symptome wie VW sieht: Das sind ja unvorstellbare Dimensionen. Die Börse wackelt ein bisschen, aber es gibt keinen Crash. Die Nato und Russland schießen einander die Flugzeuge ab, aber die Börse crasht trotzdem nicht. Es wird immer noch mit angehaltenem Atem so getan, als sei alles in bester Butter.
In Ihrem Buch steht der Satz: „Maria erzählte ihm ihr Leben, als bewerbe sie sich um eine Stelle in seinem.“ Sind unsere Leben mittlerweile dauerhafte Bewerbungsverfahren?
Das kann man so sehen. In meiner Jugend schienen Stellen, Bewerbungen und Karrieren sehr problemlos zu sein. Ich habe ein paarmal aufgehört zu arbeiten, bin ein Jahr lang trampend herumgereist und habe nie eine Sekunde gezweifelt, dass ich hinterher wieder einen Job finde. Das ist jetzt anders. Viele haben das Gefühl, sich dauernd bewerben und darstellen zu müssen.
Warum wehren sich die jungen Leute nicht gegen ihre Situation als Dauerbewerber?
Wir haben lange einen großen Teil unserer Zeit in Spanien verbracht. Das ist ja verrückt: Über die Hälfte der jungen Leute dort haben keinen Job und sehr wenige Aussichten, je einen zu kriegen. Vielleicht gehen sie deshalb nicht auf die Barrikaden, weil sie nicht wissen, was sie dagegen machen können. Ein großer sozialer Umbruch ist, dass man sich daran gewöhnen müssen wird, dass es nicht mehr Arbeit für alle gibt: Der Sinn der Industrialisierung ist, möglichst viele Dinge mit möglichst wenigen Leuten herzustellen. Ich weiß wirklich nicht, zu welchem Beruf ich meiner Tochter raten soll. Ich staune über die Bravheit der Jugend, und ich weiß nicht, was passiert, wenn sie merken, dass es ihnen nichts nützt, brav zu sein. Es gibt ja dann die anderen Ventile: der IS, das sind ja auch junge Leute ohne Perspektiven. Da läuft es einem kalt den Rücken runter, wenn man sieht, was das für Formen des Sich-Abwendens von der Zivilisation mit sich bringen kann.
Viele der Journalisten, die derzeit arbeitslos werden, liebäugeln mit einem ganz anderen Ventil: Bestsellerautor werden wie Martin Suter. Wie geht das?
Das Wichtigste ist, es nicht werden zu wollen. Beim Schreiben sollte man nicht daran denken, wie der Text erfolgreich werden könnte. Da verkrampft man sich. Ich habe immer versucht, so zu schreiben, wie ich gerne lesen würde. Und dann hatte ich das Glück, dass ich offenbar einen populären Geschmack hatte.