Bis zu 200 000 Fabrikarbeiter protestieren zum Teil gewaltsam für höhere Mindestlöhne und Sozialstandards. Auch die Kampagne für Saubere Kleidung kritisiert die schlechten Arbeitsbedingungen und die Scheinheiligkeit der Handelskonzerne.

Dhaka - Bereits am dritten Tag in Folge sind Zehntausende Fabrikarbeiter in Bangladesch für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne auf die Straße gegangen. Aus Protest gegen die schlimmen Zustände an ihren Arbeitsstätten zündeten sie zahlreiche Fabrikgebäude an und lieferten sich blutige Auseinandersetzungen mit der Polizei, die mit Tränengas und Gummigeschossen in die Menge feuerte. Die Polizei im Bezirk Gazipur, dem Standort vieler Textilfabriken am Rande der Hauptstadt Dhaka, sprach von bis zu 200 000 Demonstranten. 300 Fabriken seien bereits geschlossen worden, um Angriffen der aufgebrachten Menge zu entgehen. Mehrere Dutzend Protestierer und einige Polizisten seien bei den Auseinandersetzungen verletzt worden, berichtete die Nachrichtenagentur AFP.

 

Eine Reportage des britischen Senders BBC, die am Montagabend ausgestrahlt werden sollte, beschreibt die „unmenschlichen Arbeitsbedingungen“ am Beispiel einer Fabrik in Dhaka. Die Arbeiter der Ha Meem Sportswear-Company, in der dem Bericht zufolge auch der deutsche Discounter Lidl produzieren lässt, müssten für Hungerlöhne 19-Stunden-Schichten leisten. Ein Beschäftigter wird mit den Worten zitiert, er verdiene pro Schicht umgerechnet 2,40 Euro. Zudem würden dort Brandschutzvorschriften missachtet und Stundenzettel gefälscht. Der Geschäftsführer wies Beobachtungen eines britischen Reporters zurück, wonach die Arbeiter in der Nacht zeitweise in dem feuergefährdeten Gebäude eingeschlossen worden seien.

Umstrittene Fabrik produziert 150 000 Hosen für Lidl

Laut BBC wurden in der Fabrik gerade 150 000 Jeans und Latzhosen für Lidl gefertigt. Die Lidl-Zentrale in Neckarsulm bezeichnete den Bericht dem Sender zufolge als besorgniserregend. Die Erkenntnisse verdeutlichten, wie wichtig es sei, die Arbeitsbedingungen in Bangladesch zu verbessern. Vor dieser Aufgabe stehe nicht nur Lidl, sondern der gesamte Einzelhandel. Der Discounter und rund 30 weitere Handelskonzerne aus der ganzen Welt waren nach dem Einsturz des Fabrikgebäudes Rana Plaza mit mehr als 1100 Toten im April einem Sicherheitsabkommen für Textilfabriken in Bangladesch beigetreten.

Die Kampagne für Saubere Kleidung hatte das Abkommen, dem mittlerweile mehr als 80 Unternehmen angehören, maßgeblich vorangetrieben. Frauke Banse, eine Sprecherin des Netzwerks, kritisierte im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung allerdings die weiterhin vorherrschende Haltung vieler Auftraggeber, die in Bangladesch produzieren lassen: „Die Unternehmen sind nicht so machtlos, wie sie sich selbst darstellen. Sie ziehen sich nur mit den immer gleichen Ausflüchten aus der Verantwortung, da versteckt sich einer hinter dem anderen.“ Das zeige sich auch bei den laufenden Entschädigungsverhandlungen für die Opfer der jüngsten Unfälle. „Hier geht das Versteckspiel weiter.“

Die Umsetzung des im Juli verabschiedeten Bangladesch-Abkommens sei unabhängig davon auf dem Weg. Es sieht unter anderem vor, dass innerhalb von neun Monaten mehr als 1000 Zulieferbetriebe der Unterzeichner genau untersucht werden. Für den Fall, dass die Sicherheit der Näherinnen in einem der Gebäude akut gefährdet ist, sieht das Abkommen einen „Notfallplan“ vor, die Fabrik wird vorübergehend stillgelegt. Eine vorbeugende Schließung hätte im Falle des Rana Plaza nahe der Hauptstadt Dhaka möglicherweise viele Opfer verhindern können: „Den Verantwortlichen war damals klar, dass es unsicher ist, dort zu arbeiten. Es musste aber erst ein schweres Unglück passieren, bevor sich etwas bewegt hat“, kritisiert Banse

Viele Firmen beklagen geringe

Der Darstellung vieler Firmen, ihren Einflussmöglichkeiten seien enge Grenzen gesetzt, widerspricht die Vertreterin der Kampagne für Saubere Kleidung entschieden: „Die Hersteller haben den Spielraum, sie sind nicht darauf angewiesen, nur nach dem billigsten und schnellsten Angebot zu heischen.“ Durch langfristige und enge Lieferantenbeziehungen könnten Konzerne die Arbeitsbedingungen verbessern, es gebe positive Beispiele: „Zentral ist, dass sie in den Zulieferfabriken auf die Einhaltung von Gewerkschaftsrechten drängen. Unabhängige Gewerkschaften sind wichtige Voraussetzungen für höhere Löhne und sichere Fabriken.“

Die seit drei Tagen demonstrierenden Fabrikarbeiter verlangen, dass der Mindestlohn von derzeit 3000 Taka (knapp 30 Euro) auf umgerechnet 75 Euro im Monat angehoben wird. Proteste gegen Niedriglöhne und schlechte Arbeitsbedingungen sind in Bangladesch keine Seltenheit. Seit Rana Plaza sind die Demonstrationen jedoch heftiger geworden. Die Proteste am Montag seien die gewaltsamsten seit 2010, sagte ein Vertreter der Fabrikbesitzer. Bangladesch ist nach China der zweitgrößte Textilproduzent weltweit. Die rund 4500 Fabriken produzieren etwa 80 Prozent aller Exporte des Landes, das dadurch knapp 15 Milliarden Euro im Jahr einnimmt.