Die Jugend ein Desaster, der Bruder nach einem Unfall behindert, der Vater spurlos verschwunden: Matthew Stokoe mutet seinem Protagonisten Johnny und dem Leser einiges an Ungemach zu. Aber so ist das Leben in der Kleinstadt eben.

Manteldesk: Thomas Schwarz (hsw)

Stuttgart - Ein Sprichwort behauptet, der Teufel scheiße in manchen Fällen immer auf den selben, den größten Haufen. Bei Johnny ist das mit Sicherheit der Fall. Der Protagonist in Matthew Stokoes Roman „Empty Mile“ erfährt einen Schicksalsschlag nach dem anderen. Als er 16 Jahre alt ist, kommt seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben. Sein jüngerer Bruder Stan ertrinkt beinahe und bleibt dadurch geistig auf dem Niveau eines kleinen Jungen. Stans Ein und Alles sind seine Superheldenkostüme: „Dad mag sie nicht. Aber ich hab sie mit meinem selbst verdienten Geld bezahlt, darum ist es okay. Aber draußen darf ich sie nicht tragen. Einer der Nachbarn hat mich damit im Garten gesehen und Dad gesagt, ich sei nicht ganz dicht.“

 

Ein Schicksalsschlag jagt den anderen

Johnny selbst gerät als Teenager beinahe auf die schiefe Bahn und haut darum von zu Hause, dem fiktiven Städtchen Oakridge am Fuß der Sierra Nevada, nach London ab. Acht Jahre später kehrt er zurück – womit die Handlung von „Empty Mile“ einsetzt. Zurück in Oakridge, sieht sich Johnny mit der Vergangenheit konfrontiert. Vor allem Marla, seine frühere Freundin, und Gareth, dem er sie einst ausgespannt hat, lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Während Johnny und Marla ihre Beziehung wieder aufleben lassen, zeigt sich, dass Gareth starken Einfluss auf sie ausübt, trotz ihrer starken Abneigung gegen ihn.

Diese Obsession, dazu ein Panoptikum schräger bis unheimlicher Figuren, die vor Grenzüberschreitungen nicht zurückschrecken, und kuriose Episoden wie der Besuch eines Schwarzbären auf einem Benefiz-Picknick: sie alle erinnern manchmal ein bisschen an „Twin Peaks“, die TV-Serie um ein amerikanischen Kleinstädtchen, hinter dessen Fassaden der Normalität sich Abgründe auftun.

Allerdings reicht Stokoes Roman in Sachen Ironie lange nicht an David Lynchs Serie heran. Ähnlich mysteriös wird die Geschichte allerdings, wenn Johnnys Vater plötzlich spurlos verschwindet, nachdem er mit seinen Söhnen in ein Haus in einer abgelegenen Gegend namens Empty Mile außerhalb von Oakridge gezogen ist.

Bizarres Geflecht aus Gewalt, Hörigkeit und Scham

Scheinbar stoisch geht der ältere Bruder mit diesen Schicksalsschlägen um, während dem jüngeren in seinem kindlichen Gemüt manches schier zu viel wird, wie einem modernen Hiob, der nicht begreift, warum das Leben sich plötzlich so gegen ihn wendet. Da helfen dann nicht einmal seine geliebten Superheldenkostüme.

Das Geflecht aus bizarrem menschlichen Verhalten, Grausamkeit, Scham und Hörigkeit entwirrt sich aber letztlich vor Johnny und dem Leser, und auch das Schicksal seines Vaters wird aufgedeckt. Die Auflösung ist so einfach wie tragisch.

Der in Sydney lebende Brite Matthew Stokoe hat sich mit mittlerweile drei Romanen den Ruf erworben, düstere Geschichten an Schauplätzen spielen zu lassen, denen sonst paradiesische Qualitäten zugesprochen werden. Das gilt auch für die Gegend zwischen San Francisco und der Sierra Nevada. Das fiktive Oakridge ist eine typische amerikanische Kleinstadt, denen man landläufig nachsagt, dort sei der Hund begraben. Dass dem nicht so sein muss, illustriert Stokoe auf drastische Weise. Wer selbst in einer Kleinstadt aufgewachsen ist oder in einer lebt, der weiß, dass das in vielen Fällen gar nicht weit hergeholt ist. Auf jeden Fall ist es spannend zu lesen.

Matthew Stokoe: „Empty Mile“. Roman. Aus dem Englischen von Joachim Körber. Arche Verlag, Zürich. 400 Seiten, 24,95 Euro. Auch als E-Book, 18,99 Euro.