Der Fechtstar Matthias Behr erlangte durch einen traurigen Unfall Berühmtheit. Am 19. Juli 1982 ist Wladimir Smirnow in Rom von Matthias Behrs Klinge tödlich verletzt worden. Es verfolgte ihn, obwohl er nichts dafür konnte.

Sport: Dominik Ignée (doi)

Tauberbischofsheim - Über Tage, die ihm wichtig sind, kann Matthias Behr viel erzählen. Der 5. Juli neulich ist so ein Tag gewesen, an diesem Datum sind seine Zwillingstöchter 16 geworden. Und zwei Tage später, am 7. Juli, ist der Herr Papa vor zwei Jahren als Leiter des Olympiastützpunktes Tauberbischofsheim „inthronisiert“ worden. Wegen dieser etwas pathetischen Formulierung muss der Mannschaftsolympiasieger von 1976 in seinem Büro zwar etwas lächeln. Aber stolz, das ist er trotzdem.

 

Heute ist der 19. Juli, und was sich vor 30 Jahren am 19. Juli 1982 zugetragen hat, das würde Matthias Behr am liebsten rückgängig machen. Aber das geht nicht. „Der 19. Juli 1982 ist noch so präsent, als wäre alles vor fünf Minuten passiert“, sagt Behr, in dessen Gedächtnis die Tragödie von Rom vor 30 Jahren immer noch nur einen Augenblick entfernt ist. Dieser 19. Juli 1982 hat sein Leben mitbestimmt.

Was ist damals passiert? Bei der Fecht-WM stehen sich Matthias Behr und der Olympiasieger sowie Weltmeister Wladimir Smirnow gegenüber, der Russe ist der Weltbeste seines Fachs und ein guter Freund von Behr. Die Fechter attackieren sich, Behrs Klinge bricht ab, die Spitze bohrt sich durch die poröse Maske Smirnows, schlägt durch das Auge, trifft das Gehirn – überall Blut. Während sich Betreuer und Ärzte um den Russen kümmern, irrt Behr durch die Halle, weint, schreit: „Warum ich, mein Gott, warum nur ich?“

Den tödlichen Unfall einigermaßen verarbeitet

Wenige Tage nach dem Unfall, durch den die Nischensportart Fechten traurige Berühmtheit erlangt hatte, können die Ärzte Smirnow nicht mehr helfen. Er stirbt. Seine Frau ist schwanger. Behr ist wie in Trance, verfolgt die Krankenhausgeschichte via „Bild“. Als Smirnows Tod vermeldet wird, steht er unter Schock. Sein Bruder ist bei ihm, die Familie stützt ihn. Der damalige Bundestrainer Emil Beck fährt mit ihm fünf Tage in den Bayerischen Wald, um über das Schicksal zu sprechen.

30 Jahre später lässt sich sagen: Matthias Behr hat den tödlichen Unfall einigermaßen verarbeitet – soweit das eben geht. Ganz ablegen kann er den 19. Juli 1982 aber nie. Um mit dem Unfall irgendwie zurechtkommen zu können, hat sich der Tauberbischofsheimer eine Strategie zurechtlegen müssen: „Ich musste es einfach so einordnen, dass ich dazu auserkoren war, für die Sicherheit im Fechtsport zu sorgen – nur so konnte ich damit umgehen.“

Der Vorfall habe ihm „sehr wehgetan“, immer wieder, bei jedem Jahrestag kommt dieses Gefühl der Ohnmacht hoch. Nach fünf Jahren, nach zehn, nach 20 – und jetzt nach 30 Jahren. Schuldgefühle sind unnötig, er konnte damals nichts machen, er war ohne Chance. „Wenn zwei 85-Kilo-Athleten aufeinander losgehen und die Klinge bricht, dann ist es vorbei“, sagt Behr. Er versucht das Schicksal hinzunehmen wie ein Mensch, dem ein Kind vor den Wagen gelaufen ist und der völlig schuldlos an der Tragödie ist – und doch irgendwie mit ihr leben muss. Nur so wird für Behr das Unglück einigermaßen erträglich.

Zurückgeblieben sind die seelischen Narben

Es hat fünf Jahre gedauert, bis die bruchsichere Maraging-Klinge auf den Markt kam, bis die Sicherheitswesten stabiler wurden und bis der Stahl in der Maske so verarbeitet war, dass nichts mehr passieren konnte. Das Schicksal von Ayrton Senna hat die Formel 1 sicherer gemacht, das von Wladimir Smirnow den Fechtsport.

Zurückgeblieben sind die seelischen Narben bei den Angehörigen von Wladimir Smirnow in Russland und die Narben bei Matthias Behr in Tauberbischofsheim. Er ist damals bewusst nicht zur Beerdigung gegangen, weil er nicht wollte, dass die Trauergäste mit dem Finger auf ihn zeigen und sagen: „Da steht er, der war’s.“ Er ist in den vergangenen 30 Jahren nur einmal bei einem Weltcup in Russland gewesen, obwohl er als junger, erfolgreicher Fechter gerne nach Moskau gereist war. Einen Bogen macht er normalerweise auch um die Schnapsabteilung im Supermarkt. Wenn er zufällig irgendwo den Wodka „Smirnow“ stehen sieht, muss er sofort an den 19. Juli 1982 in Rom denken. „Ist das nicht verrückt?“, fragt Behr.

Die unglückliche Beteiligung am Tod des Russen, die Scheidung von seiner ersten Frau, mit der er auch zwei Kinder hat, später das Theater um den umstrittenen Stützpunktchef Emil Beck – es sind Wegmarken im Leben von Matthias Behr, die vor zwölf Jahren zu Depressionen führten, da ist sich der heute 57-Jährige sicher. „Diese Summe von Tiefschlägen hat das Fass zum Überlaufen gebracht“, sagt Behr.

Behr: „Schluss jetzt!“

Er machte kein Geheimnis aus seiner Krankheit, die er überwunden hat. In Interviews erzählte er darüber, um anderen zu helfen. „Ich habe so viel Zuspruch von Leuten mit ähnlichen Problemen bekommen, das hat mich gefreut“, sagt Behr, der die Probleme des Lebens heute mit offenem Visier angeht. Nur als sich der Fußballtorwart Robert Enke das Leben genommen hatte und die Reporter reflexartig Behr zu Depressionen befragen wollten, war klar: „Schluss jetzt!“ Was er zu der Krankheit zu sagen hatte, hat er gesagt. „So kann es ja auch nicht immer weitergehen.“

Heute ist Behr, der als Fechter zahlreiche Medaillen sammelte, eine Institution in Tauberbischofsheim. Angefangen hat er als Internatsleiter der Kaderschmiede, und durch seine zuvorkommende Art sowie Kompetenz führte kein Weg daran vorbei, den dienstältesten TBB-Mann zum Olympiastützpunktleiter zu machen. Als würde er selbst nochmals zum Florett greifen wollen, erzählt er von den guten Chancen der deutschen Equipe bei den Spielen in London. Im Männerflorett, im Frauendegen und vor allem bei den Säbelfechtern könnte es seiner Meinung nach zu einer überragenden Medaillenausbeute kommen.

Wenn einer das Fechten liebt und lebt, dann er. Nur eines fehlt ihm noch: ein Antwortbrief von Frau Smirnowa aus Russland. Vor acht Jahren hat er ihr ausführlich geschrieben. „Ich warte und hoffe immer noch“, sagt Matthias Behr.