Mit einer bahnbrechenden Rede leitete Michael Gorbatschow 1986 als KPdSU-Generalsekretär die historische Wende ein. Es war der offene Abschied der bis dato vorherrschenden Breschnew-Doktrin.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Die abendliche Pressekonferenz von Günter Schabowski war mehr als eine Stunde vor sich hingeplätschert, ehe das Politbüromitglied recht beiläufig erklärte, dass die DDR ihre Bürger nicht mehr an der Ausreise zu hindern gedenke. Zehntausende waren schon in den Tagen zuvor über die Tschechoslowakei oder Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik geflohen. So viele, dass Innenminister Wolfgang Schäuble den jenseits der Grenze Verbliebenen ins Gewissen redete, dass die Flüchtlinge mangels Wohnraum wohl auf lange Zeit schlechter in der Bundesrepublik wohnen würden denn zu Hause in der DDR. Es hat ein wenig gebraucht, ehe sich in den Köpfen vergegenwärtigte, wie historisch dieser 9. November 1989 denn gewesen ist.

 

In den Wochen, Monaten und Jahren vor diesem Novembertag ist viel Historisches geschehen – und vieles davon wurde nicht sofort erkannt oder in seiner vollen Bedeutung wahrgenommen. Von den Sowjetrepubliken Kasachstan bis Lettland hatte sich der Unmut über die Zustände im zwangsvereinigten Riesenreich geregt. Und so unterschiedlich die Beweggründe für jede Demonstration, jeden Protest und jeden Aufstand auch gewesen sein mögen, am Ende haben die Ereignisse in den 15 Sowjetrepubliken und den Satellitenstaaten des Warschauer Paktes zur größten geopolitischen Umwälzung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geführt.

Im April 1986, wenige Tage vor der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, war so ein geschichtsträchtiger Tag. Michail Gorbatschow, zu diesem Zeitpunkt seit etwas mehr als einem Jahr Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) erklärte da in einer Rede erstmals Grundzüge seines Reformprogrammes Perestroika. „Wenn wir uns nicht selbst umbauen, können wir weder unsere Wirtschaft noch unsere Gesellschaft umbauen und die Aufgaben nicht lösen, die beispiellos sind.“ Drei Monate später setzte Gorbatschow noch eins drauf. Methoden, wie sie bei den Aufständen in Ungarn und der Tschechoslowakei angewendet wurden seien „unannehmbar“.

Es war der offene Abschied von der Breschnew-Doktrin

Das war der offene Abschied der bis dato vorherrschenden Breschnew-Doktrin. Das Einmischen war im Sowjetreich gleichwohl noch nicht aus der Mode gekommen. Noch im Winter desselben Jahres setzte Gorbatschow den kasachischen Parteiführer Dinmuhammed Kunajew ab. Der von Moskau inthronisierte Nachfolger stieß bei der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe. Es kam zu Protesten, die von Moskau in der Operation Schneesturm niedergeknüppelt wurden. Gleichwohl begann die nationale Frage zu keimen – und die wuchs immer schneller, immer höher und breitete sich immer weiter aus. Ironie am Rande: in Kasachstan, dort wo die nationalistischen Bestrebungen begannen, dauerte es am längsten, ehe sie vollständig umgesetzt wurden. Von allen 15 Sowjetrepubliken erklärte Kasachstan als letzte seine Unabhängigkeit, am 16. Dezember 1991. Es brodelte an allen Ecken und Enden. Die Krim-Tartaren, zu dieser Zeit größtenteils im usbekischen Exil versammelt, kamen 1987 vor dem Kreml zusammen. Mit dem von Fidel Castro ausgeliehenen Motto „Vaterland oder Tod“ veranstalteten sie die bis dahin größte Demonstration in der sowjetischen Geschichte. Im autonomen Landkreis Bergkarabach, der zu 70 Prozent von Armeniern bewohnt wurde, aber zur Sowjetrepublik Aserbaidschan gehörte, begannen ein Jahr später die Intellektuellen eine „Rückgabe“ zu fordern, rasch schlossen sich große Teile der Bevölkerung an.

Für die Führer der Sowjetunion taten sich immer mehr Baustellen auf. Im usbekischen Teil des Feranga-Tals kam es im Frühjahr 1989 zu einem Pogrom an der türkischsprachigen Minderheit. Noch heftiger wurde der Protest im Südkaukasus. Seit dem Winter wurde in Georgien gegen die sowjetische Herrschaft protestiert, im April griff Moskau gewaltsam ein – entgegen der drei Jahre zuvor gemachten Ankündigung. Eine Sondereinheit des sowjetischen Innenministeriums setzte in Tiflis Giftgas gegen die Demonstranten ein. 14 Menschen fanden dadurch den Tod.

In den Satellitenstaaten des Warschauer Paktes wurde die sowjetische Politik mit Misstrauen von den Herrschenden beäugt. Der rumänische Diktator Nicolae Ceausescu machte keinen Hehl daraus, dass er ein gewaltsames Vorgehen gegen jede Form des Widerstandes bevorzugt. Gustav Husak in der CSSR und Janos Kadar in Ungarn, beides langjährige Parteiführer, hatten ebenfalls Bedenken, äußerten die aber nicht so deutlich. Beide wurden noch vor der Unabhängigkeit ihrer Länder durch Nachfolger ersetzt. In Polen, wo der Drang zur Freiheit nach den Streiks des Jahres 1980 zunächst durch die Verhängung des Kriegsrechtes jäh beendet wurde, war die Entwicklung am schnellsten vorangegangen. Bereits im Juni 1989 kam es hier zu teilweise freien Wahlen.

Im Baltikum herrschte der Wunsch nach Veränderung

Innerhalb der Sowjetunion war der Drang nach Veränderung wohl nirgendwo so groß wie im Baltikum. In Riga hatten sich bereits 1987 rund 5000 Demonstranten versammelt, um gegen die sowjetische Besatzung zu demonstrieren. Zwei Jahre später waren es Millionen, die auf die Straße gingen. Am 23. August 1989, genau 50 Jahre nach Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes, bildeten zwei Millionen Esten, Letten und Litauer eine Menschenkette. 600 Kilometer lang verband sie die Hauptstädte Tallin, Riga und Vilnius. Hunderttausende hatten sich zuvor immer wieder auf öffentlichen Plätzen versammelt, um gemeinsam Volkslieder zu singen – als Liebesbeweis für die eigene Heimat und als Signal gegen die Sowjetunion. Die Schauspielerin Vija Artmane, ausgezeichnet mit dem Leninorden und als „Volkskünstler der UdSSR“, hatte dabei gesagt, dass 40 Jahre Okkupation durch die Sowjetunion genug seien. Den Generalsekretär der KPdSU soll das besonders hart getroffen haben.