Vor der Landtagswahl fällt die ökonomische Bilanz bescheiden aus. Der Strukturwandel dauert viel länger als einst erhofft.

Korrespondenten: Thomas Wüpper (wüp)

Schwerin - Wer die Naturparadiese im Nordosten Deutschlands erlebt hat, kommt gerne wieder. Die Kreideküste von Rügen, Usedoms Badestrände, Kranichzüge im Nationalpark am Bodden, Bootstouren auf der Müritz, Radeln und Wandern an den Ufern der vielen Seen – Mecklenburg-Vorpommern ist ein Reiseland, das sich lohnt.

 

Immer mehr Touristen wissen das zu schätzen. Diesen Sommer sind die meisten Hotels an der Ostsee fast immer ausgebucht. Die dünn besiedelte Küstenregion ist nach dem Fall der Mauer wieder eines der beliebtesten Ferienziele der Deutschen geworden. Solche Erfolge sucht man ansonsten zwischen Elbe und Oder leider vergeblich. Denn ökonomisch bleibt der strukturschwache Nordosten ein Problemfall.

Daran konnte auch Erwin Sellering wenig ändern. Der sozialdemokratische Ministerpräsident regierte bisher mit bequemer Mehrheit einer Koalition von SPD und CDU. Doch die Zustimmung bröckelt. Auch an der Küste ist die AfD im Aufwind und könnte laut Umfragen bei der Landtagswahl am 4. September auf bis zu 20 Prozent kommen, fast so viele wie jede der Regierungsparteien.

Die Zahl der Wähler, die unzufrieden mit der Koalition sind, ist offenbar groß. Dabei sieht zumindest die Wirtschaftsentwicklung auf den ersten Blick nicht schlecht aus. Mit 1,9 Prozent lag das Wachstum Mecklenburg-Vorpommerns voriges Jahr über dem Bundesdurchschnitt. Die Zahl der registrierten Erwerbslosen ist so niedrig wie nie zuvor, die Arbeitslosenquote von einst 20 Prozent hat sich halbiert.

Mehr Zuwanderer als Abwanderer

Ebenso erfreulich: Seit einigen Jahren gibt es etwas mehr Zu- als Abwanderung, nachdem zuvor Hunderttausende die Koffer gepackt hatten. Die Einwohnerzahl ist auf 1,6 Millionen gesunken. Nur zwei Prozent der Gesamtbevölkerung leben im strukturschwachen Nordosten, der gerade mal 1,3 Prozent zur gesamtdeutschen Wirtschaftsleistung beiträgt – und damit ökonomisch fast unbedeutend ist.

Leider steht auch die soziale Realität zwischen Güstrow und Ueckermünde in krassem Gegensatz zur schönen Natur. Nirgendwo in Deutschland sind die Einkommen, Löhne und Steueraufkommen pro Kopf geringer. Und kaum irgendwo gibt es anteilig so wenige Hochqualifizierte, so viele Schulabgänger ohne Abschluss, so viele Langzeitarbeitslose und Menschen, die staatliche Unterstützung erhalten.

Die Lage im Nordosten ist ernst. Ländliche Regionen wie Vorpommern drohen in den nächsten Jahrzehnten wirtschaftlich auszubluten und zu vergreisen. Schon jetzt ist fast jeder Vierte im Land älter als 65. Die Jungen suchen ihr Glück anderswo, und wo die Bevölkerung schrumpft und überaltert, fehlt das Geld, um Verwaltungen, Schulen, Kindergärten, Busse, Bahnen und Straßen finanzieren zu können. Ein Teufelskreis.

Seit 25 Jahren regieren SPD-Ministerpräsidenten das Land mit wechselnden Koalitionspartnern. Die meiste Zeit ging es darum, den harten Strukturwandel abzufedern. Von der Werftindustrie, zu DDR-Zeiten ein Leuchtturm der Wirtschaft, blieb wegen harter asiatischer Konkurrenz nur wenig übrig. In der Landwirtschaft entstanden aus den sozialistischen Genossenschaften zwar riesige profitable Betriebe, der größte Teil der Landarbeiter aber wurde überflüssig.

Schnelle Datenleitungen nötig

s wird noch viel Zeit, Geduld und intelligente Förderung brauchen, den Nordosten zu einer Region zu machen, in der es mehr gibt als herrliche Urlaubsparadiese. Dabei gilt es, Trends wie die Vernetzung und Dezentralisierung der Arbeitswelt zu nutzen. Immer mehr Selbstständige und Dienstleister brauchen dank schneller Datenleitungen keinen teuren Standort mehr in der Großstadt.

Arbeiten dort, wo andere Ferien machen – mit solchen Werbekampagnen sollte die Küstenregion verstärkt auch Zukunftsbranchen wie die nachhaltige Energie- und Umwelttechnik oder die ökologische Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion anlocken. Andersfalls bleibt das Land noch lange am Finanztropf des Westens hängen – unabhängig davon, wie die Wahl ausgeht.