In den Krankenhäusern werden manche Medikamente knapp. Betroffen sind vor allem Krebsmedikamente und Antibiotika. Gründe sehen Ärzteorganisationen in einer enormen Marktkonzentration, Qualitätsmängeln und Marktstrategien der Hersteller.

Stuttgart - Lieferausfälle bei Arzneimitteln werden zunehmend zum Problem. In deutschen Krankenhäusern und Apotheken fehlen die Medikamente. Das wirkt sich inzwischen auch auf die Behandlung der Patienten aus. Besonders die Onkologen schlagen Alarm. „Schwierigkeiten gibt es vor allem im Bereich der Antibiotika, bei Blutprodukten und Krebsmedikamenten“, sagt Peter Asché, Pressesprecher des Verbands der Krankenhausdirektoren Deutschlands (VKD). Je nach Bundesland fehlen Bronchialpharmaka, Infusionslösungen oder Aspirin zur intravenösen Verabreichung, die man im Notarztwagen für Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt braucht. Auch in Baden-Württemberg sind solche Probleme bekannt; die Patienten merken meist nichts.

 

„Unsere Ärzte und Apotheker sind bemüht, bei Lieferproblemen Alternativen zu suchen“, so Asché. Das sei oft nicht einfach. Manche Mitteilungen der Hersteller und Lieferanten erreichten das Krankenhaus erst, wenn die Arzneimittel schon geliefert sein müssten. Die Suche nach Ersatz sei zeitraubend, zum Teil müssten sogar Therapiepläne geändert werden. Doch auch das Ausweichen auf andere Arzneimittel werde schwieriger. So sei ein Medikament zur Behandlung von Entzugssymptomen nicht lieferbar gewesen. Das Krankenhaus entschied sich, zu einem vergleichbaren Produkt von einem anderen Anbieter zu wechseln. Aber auch das war wochenlang nicht lieferbar, ein weiteres Ersatzprodukt konnte ebenfalls nicht geliefert werden. Manche Klinik wägt inzwischen ab, welcher Patient ein Antibiotikum dringend braucht und bei wem man darauf verzichten kann.

Auch der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) bestätigt das Problem. Als Gründe nennt der BPI Herstellungsprobleme, Lieferengpässe bei Wirkstoffen sowie unwirtschaftliche Erstattungspreise, die eine Produktion unmöglich machten. Die Führungskräfte der Deutschen Krankenhäuser sehen die Ursache der Probleme vor allem in der wachsenden Marktkonzentration. „Viele Arzneimittel und deren Wirkstoffe werden im Zuge der Globalisierung nur noch an einem Standort hergestellt“, erklärt Asché.

Antibiotika kommen aus China

So ist China zum Beispiel zum größten Antibiotika-Hersteller geworden; in den USA und in Europa werden diese Mittel nicht mehr produziert. Die Lieferwege sind lang, auf steigende Nachfrage kann nicht flexibel reagiert werden. Zudem wurden die Lagerkapazitäten auf ein Minimum reduziert, um die Kosten zu senken. Treten Qualitätsmängel oder Produktionsunterbrechungen auf, trifft das viele Länder. Von der Verknappung profitieren Händler und Importeure, die noch Ware besitzen. Sie verlangen überteuerte Preise.

Auch für Thorsten Hoppe-Tichy hat das Problem Besorgnis erregende Ausmaße angenommen. Die Zahl der Lieferengpässe bei Arzneimitteln sei in den vergangenen zwei bis drei Jahren deutlich gestiegen, sagte der Präsident des Bundesverbands Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) in einem Interview. Gerade im Bereich der Krebsmedikamente sei dies ein ernstes Problem.

Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) sehen diese Entwicklung mit großer Besorgnis. „Die Schwierigkeiten sind bisweilen so gravierend, dass bei betroffenen Patienten die Überlebenschance sinkt“, warnt Gerhard Ehninger, der Vorsitzende der DGHO.

Zusätzlich verschärfen Marktrücknahmen die Situation. So nahm die Sanofi-Tochter Genzyme das Leukämie-Medikament Mabcampath (Wirkstoff Alemtuzumab) vom Markt, um bei der Zulassung von Alemtuzumab als Medikament gegen Multiple Sklerose (MS) einen besseren Preis erzielen zu können. Bisher wurde das Mittel bei Chronischer Lymphatischer Leukämie verwendet, der häufigsten Leukämieform in Deutschland. Es gehört zum aktuellen Therapiestandard und ist essenziell für Patienten mit einer besonders aggressiven Verlaufsform dieser Leukämie.

Bei ärztlichen Fachverbänden war dies auf Kritik gestoßen. Die DGHO sprach von einer „profitorientierten Zulassungsstrategie“, die Bundesärztekammer von unverantwortlichem „Indikationshopping“ und der Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) von „unethischer Marktpolitik“. „Weil sich der pharmazeutische Unternehmer auf den lukrativen Markt der Multiplen Sklerose konzentrieren will, nimmt er in Kauf, dass die Behandlung leukämiekranker Patienten unnötig erschwert wird“, sagt der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), Wolf-Dieter Ludwig. Sanofi erklärt, Patienten, für die eine Therapie mit Mabcampath „aus medizinischer Sicht alternativlos ist“, könnten das Mittel weiter bekommen. Es werde kostenlos über die britische Firma Clinigen abgegeben.

Auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linken sagte dazu die Bundesregierung: „Rechtliche Möglichkeiten, einen pharmazeutischen Unternehmer dazu zu zwingen, ein Arzneimittel in Deutschland zu vermarkten, bestehen nicht.“ Die Regierungen der USA und der Schweiz beschäftigen sich ebenfalls mit dem Problem. Die US-Behörden erhielten im Oktober 2011 größere Vollmachten zur Überwachung der Arzneimittelversorgung. „In Deutschland fehlen entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen“, kritisiert Ludwig. „Deshalb benötigen wir dringend eine gesetzliche Regelung bei drohenden Versorgungsengpässen.“ Ein entsprechender Absatz war aus dem „Zweiten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ gestrichen worden. Der Verband der Krankenhausdirektoren (VKD) fordert die Politik auf zu prüfen, ob Pharmafirmen verpflichtet werden können, Lagerbestände im Land vorzuhalten. Außerdem müsse frühzeitig über Engpässe informiert werden. „Wir haben gute Prognosen über die Anzahl von Neuerkrankungen, so dass die Lagerhaltung angepasst werden kann“, sagt Asché. In anderen Ländern sei das möglich.

Auf eine weitere Anfrage der Linken im Bundestag bestätigte die Bundesregierung, dass es „in jüngster Vergangenheit einige wenige Fälle“ gegeben habe, in denen „bestimmte Arzneimittel zeitweise nicht oder nicht ausreichend“ in deutschen Kliniken verfügbar gewesen seien. Diese Fälle seien meist auf Qualitätsmängel bei einzelnen Arzneimitteln oder auf Qualitätsmängel in Wirkstoffbetrieben zurückzuführen gewesen. Das Vorliegen von länger andauernden Lieferengpässen für lebenswichtige Arzneimittel lasse sich hingegen nicht bestätigen.

Laut Bundesministerium für Gesundheit sind in „Deutschland die Hersteller und Großhändler gesetzlich verpflichtet, für eine kontinuierliche Bereitstellung der Arzneimittel zu sorgen“. An der Umsetzung scheint es zu hapern. Eine verlässliche Übersicht gibt es aber nicht.

Gute Geschäfte, große Lieferprobleme

Trend
Beziffern lässt sich das Problem der Lieferengpässe nicht, da für Deutschland Statistiken fehlen. In den USA ist das anders, die US-Arzneimittelbehörde FDA verzeichnete einen drastischen Anstieg und Lieferengpässe bei mehr als 250 Medikamenten. Da Arzneien für den Weltmarkt hergestellt werden, lässt sich der Trend auf Europa übertragen.

Statistik
In den USA entstehen Lieferengpässe vor allem bei Krebsmitteln (28 Prozent) und Antibiotika (13 Prozent). In 43 Prozent der Fälle gaben die Erzeuger Herstellungsprobleme an. Verspätungen machten 15 Prozent, Rohstoffknappheit zehn Prozent aus.

Hersteller
Die Gesundheitsindustrie strotzt vor Gesundheit: Von 2005 bis 2010 stieg die Bruttowertschöpfung von sieben der größten Healthcare-Unternehmen, darunter Bayer HealthCare, Boehringer Ingelheim, Merck und Sanofi-Aventis, um fast 40 Prozent. Laut der Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie ist das dreimal so viel wie in der deutschen Gesamtwirtschaft.