Tamiflu galt während der Grippe-Epidemien als Mittel der Wahl. Jetzt zeigen Studien, dass das Medikament anders wirken könnte als gedacht.

Stuttgart - Der japanische Kinderarzt Keiji Hayashi hat den Stein ins Rollen gebracht: Er wies das Medizinernetzwerk Cochrane darauf hin, dass es sich in seiner bisherigen Untersuchung des Grippemittels Tamiflu auf eine möglicherweise fragwürdige Studie verlassen hat. In dieser Studie aus dem Jahr 2003 wird behauptet, dass Tamiflu das Risiko von schweren Komplikationen wie etwa einer Lungenentzündung während einer Grippe um 55 Prozent senke. Doch diese Aussage, so Hayashi, stütze sich auf zehn Einzelstudien, von denen nur zwei publiziert und damit nachvollziehbar seien.

 

Die Forscher des Cochrane-Netzwerks gingen unter der Leitung des britischen Arztes Tom Jefferson der Sache nach und stießen auf allerlei Ungereimtheiten, die sie dazu veranlassten, sich ganz neu mit Tamiflu zu befassen. Sie fahndeten beim Hersteller Roche sowie bei den Zulassungsbehörden in aller Welt nach unveröffentlichten Studienprotokollen und sammelten knapp 30.000 Seiten an Datenmaterial. Sie brauchten allein 20 Arbeitstage, um daraus eine Liste der unternommenen Einzelstudien zu erstellen.

Zwar haben die Cochrane-Forscher bestätigt, dass Tamiflu die Dauer der Krankheit um einen Tag verkürzt. Sie fanden jedoch keinen Beleg dafür, dass Tamiflu das Risiko von Komplikationen senkt. Der Pharmakonzern Roche bleibt trotzdem bei dieser Behauptung. Die Schweinegrippe-Pandemie 2009 habe gezeigt, "dass das Risiko von Komplikationen, die Anzahl von Patienten auf Intensivstationen und die Länge des Krankenhausaufenthaltes reduziert wurden", heißt es auf Anfrage.

Verringert Tamiflu die Immunreaktion des Körpers?

Gestritten wird auch über Begrifflichkeiten. Die US-Behörde FDA besteht darauf, dass der Beipackzettel ausdrücklich sagt, dass Tamiflu nicht vor schwerwiegenden Komplikationen schütze. Die europäische Zulassungsbehörde EMA weist jedoch auf Seite 16 ihrer Produktinformation darauf hin, dass Tamiflu die Rate antibiotikapflichtiger Komplikationen bei Jugendlichen und Erwachsenen senke. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte betont nun wiederum, dass "schwerwiegend" und "antibiotikapflichtig" nicht dasselbe sei und deshalb kein Widerspruch bestehe.

Eine uneinheitliche Definition macht die Auswertung der Daten aus Sicht von Tom Jefferson und seinen Kollegen unmöglich. Darüber hinaus haben die Forscher einen grundsätzlichen Verdacht: Sie haben Hinweise darauf gefunden, dass Tamiflu ganz anders wirken könnte, als es alle bisher vermutet haben: Der Wirkstoff Oseltamivir geht womöglich nicht gegen die Viren vor, sondern verringert die Immunreaktion des Körpers.

Diskutiert wird über die Antikörper, die ein Patient nach einer Infektion gegen die Grippeviren bildet. Die Antikörper helfen den Immunsystem dabei, die Erreger zu zerstören. Üblicherweise gelten Versuchspersonen als infiziert, wenn in ihrem Blut vermehrt Antikörper registriert werden. Doch Tamiflu, so die Cochrane-Forscher, unterdrückt vielleicht die Bildung von Antikörpern. Wenn das stimmt, würden nur die Probanden, die besonders viele Antikörper bilden, als krank eingestuft - und Menschen, die viele Antikörper bilden, sind üblicherweise für eine Krankheit körperlich besser gerüstet als andere. Wenn diese Patienten schnell gesund werden, liegt das womöglich nicht an Tamiflu, sondern an ihrer guten Konstitution.

Die Diskussion ist noch lange nicht zu Ende

Die Cochrane-Forscher kommen zu diesem Verdacht, weil sie festgestellt haben, dass im Laufe der Tamiflu-Therapie immer weniger Menschen als Grippepatienten klassifiziert werden. Das könnte daran liegen, dass Tamiflu ihre Antikörperproduktion senkt und sie deswegen durchs Diagnoseraster ihrer Ärzte fallen. Roche verweist jedoch auf die beiden veröffentlichten Komplikationsstudien: Bei diesen Untersuchungen hätten sich die Antikörper mit Tamiflu so entwickelt wie bei Probanden, die zum Vergleich ein Scheinmedikament erhielten.

Die Diskussion ist also noch lange nicht zu Ende. Tom Jefferson und seine Kollegen weisen vorläufig noch auf eins hin: Einige Probanden wurden wieder krank, nachdem sie Tamiflu abgesetzt hatten - aus ihrer Sicht ein weiterer Hinweis darauf, dass Tamiflu nicht die Grippeviren bekämpft, sondern nur die Symptome.