Gegen chronische Pein helfen Medikamente allein nicht. Eine Rundumbehandlung ist notwendig, denn Schmerz ist auch Kopfsache.

Stuttgart - Über die Jahre hinweg wurde Anja Meadows-Franz immer wieder von Rückenschmerzen geplagt. Doch verschwanden sie jedes Mal nach einiger Zeit. "Vor einigen Monaten wurden sie allerdings mein ständiger Begleiter", erzählt die 50-Jährige. Bei Anja Meadows-Franz kam viel zusammen. "Ich sitze bei meiner Arbeit ständig vor dem Computer, das geht direkt ins Kreuz." Zudem hatte sie noch mit viel Stress und Belastungen im Beruf und im Privatleben zu kämpfen. Irgendwann spielte der Rücken nicht mehr mit. Die ursprünglich akuten Schmerzen drohten, sich allmählich in chronische zu verwandeln. Sie ließ sich krankschreiben.

 

Rund zwölf Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Schmerzen, die mindestens sechs Monate andauern und die Lebensführung massiv beeinträchtigen - die also chronisch sind. Anders als bei akutem Schmerz bleiben die eigentlichen Gründe der Pein oft rätselhaft und diffus. Organische Ursachen alleine können die Qualen häufig nicht erklären.

Für die Behandlung reichen schmerzlindernde Medikamente oft nicht aus. Das musste auch Anja Meadows-Franz erfahren. Eine sogenannte periradikuläre Therapie, bei der Schmerzmittel genau in den Schmerzpunkt gespritzt wurden, brachten nicht den gewünschten Erfolg. Das ist auch kein Wunder. "Schmerz entsteht nicht im Körper, sondern im Kopf", erklärt der Leiter der Psychotherapie-Ambulanz Marburg, Winfried Rief. Komme es im Gehirn zu einer andauernden Aktivierung in Schmerzregionen, führe das zu den chronischen Leiden. "Je häufiger und länger ich Schmerzen erlebe, desto schneller springt ein spezielles Netzwerk im Gehirn an."

Eine multimodale Therapie ist wichtig

Die Schmerzerfahrungen werden im Gehirn gespeichert, man wird sensibler. Eine Studie aus dem Jahr 2010 fand heraus, dass das Gehirn von Betroffenen selbst harmlose Berührungen wie Schmerzen verarbeitet. Da der Schmerz also im wahrsten Sinne des Wortes eine Kopfsache ist, setzen Experten mittlerweile verstärkt auf die multimodale Therapie, bei der Ärzte mit Psychotherapeuten und Fachleute aus weiteren Disziplinen zusammenarbeiten.

Durch die Initiative ihrer Krankenkasse wird Anja Meadows-Franz seit einigen Wochen auf diese Weise behandelt. Am Schmerz- und Palliativzentrum Wiesbaden kümmern sich Physiotherapeuten, Schmerztherapeuten und Gesprächstherapeuten um sie. Wichtig für den Erfolg ist dabei, dass die Behandlung parallel abläuft. "Es bringt wenig, wenn etwa die Psychotherapie erst Monate nach der Schmerztherapie beginnt", sagt der Schmerzmediziner und behandelnde Arzt Thomas Nolte. Ziel des Programms ist auch die Prävention. "Denn je länger die Krankschreibezeit von Patienten andauert, desto höher ist das Risiko, dass das Leiden chronisch wird."

Anja Meadows-Franz bekommt nun in der Physiotherapie Massagen und erlernt Übungen, wie man die Muskeln aufbauen kann. In der Gesprächstherapie kann sie sich ihren privaten und beruflichen Stress von der Seele reden. Zudem lernt sie, mit den Schmerzen und der Angst davor richtig umzugehen. "Zuvor habe ich versucht, jeden Schmerz zu vermeiden", erinnert sie sich. "Ich stand beispielsweise wie in Zeitlupe auf und bewegte mich ganz unnatürlich und oft falsch."

Positive Erfahrungen statt Schmerzen und Angst

"Aus Angst vor Schmerzen setzen Patienten ihre Muskeln immer einseitiger ein", sagt auch Winfried Rief. Die einseitigen und immer sparsameren Bewegungen könnten aber zu Muskelschwächung und dem Verlust der koordinativen Fähigkeiten führen. "Außerdem wird der Schmerz von solchen Patienten als Gefahr gewertet." Dabei hat die chronische Pein längst ihre ursprüngliche Warnfunktion verloren, auf akute Verletzungen hinzuweisen. "Indem die Patienten die Schmerzen immer genauer beobachten, wird im Gehirn praktisch eine Schleuse geöffnet und die Wahrnehmung für Schmerzen immer weiter verstärkt", sagt der Psychologe.

Hinzu kommt, dass das Gehirn die Erinnerung an die unangenehmen Empfindungen mit dem Gefühl der Angst verknüpft. "Die wiederkehrende Schmerzerfahrung und die dabei entstehende Angst brennen sich ins Gehirn ein", sagt Walter Zieglgänsberger vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Ein Schmerzgedächtnis baut sich auf. Eine Therapie solle daher auch die Grundlagen dafür schaffen, dass der Patient neue positive Erfahrungen macht, sagt Rief. "Das Schmerzgedächtnis lässt sich nicht löschen, aber mit schmerzfreien Erfahrungen überschreiben."

Eine noch unveröffentlichte Studie im Rahmen des integrierten Versorgungsnetzes Rücken (IVR), an der Rief und Nolte beteiligt sind, belegt mittlerweile die Wirksamkeit des multimodalen Ansatzes. 90 Prozent der Patienten kommen wieder so gut mit dem Rückenschmerz zurecht, dass sie wieder arbeiten gehen können. "Bisher haben weit mehr als 1000 Patienten daran teilgenommen, so dass die genannten Zahlen sehr zuverlässig sind", sagt Rief. In einer Auswertung von rund 20 Studien für die Fachzeitschrift "Pain" konnte Rief zudem feststellen, dass Psychotherapien die chronischen Schmerzen von Fibromyalgiepatienten lindern. Im Gegensatz zu manchen pharmakologischen Behandlungen hielt die Wirkung zudem länger an.

Auch Anja Meadows-Franz hat bisher von dem integrierten Ansatz profitiert. Mittlerweile bewegt sie sich wieder normal. "Ich weiß nun, dass es nicht schlimm ist und teilweise zum Heilungsprozess gehört, immer mal wieder Schmerzen zu haben", sagt sie. Langsam tastet sie sich wieder an das Arbeitsleben heran, arbeitet zunächst nur halbe Tage. "Und sollten die Belastungen wieder einmal überhandnehmen, kann ich darüber mit meiner Therapeutin sprechen."

Schmerz als Dauergast

Definition Wenn Schmerzen sechs Monate anhalten und den Alltag empfindlich beeinträchtigen, gelten sie als chronisch. In diesem Fall kann sich ein Schmerzgedächtnis aufbauen, das Schmerzauslöser anders verarbeitet als gewöhnlich.

Hilfe Auf der Seite der Patientenorganisation Deutsche Schmerzliga finden Betroffene Informationen zu chronischen Schmerzen. Neben Hintergrundmaterial zu dem Leiden kann man sich auf der Webseite Kontaktdaten von Selbsthilfegruppe heraussuchen oder Therapeuten ausfindig machen.