Der Freiburger Mediziner Thomas Boehm hat entschlüsselt, wie Zellen der Immunabwehr entstehen. Für seine jahrzehntelangen Forschungen wird er heute mit dem Ernst-Jung-Preis ausgezeichnet, einem der wichtigsten Medizinpreise.

Freiburg - Der Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen, treibt ihn an. Tag um Tag, Monat um Monat, seit mehr als drei Jahrzehnten. Wissenschaft ist Knochenarbeit, Schufterei – auch für einen wie Thomas Boehm, der schon viele Ehrungen erhalten hat und dem am heutigen Freitag eine der bedeutendsten medizinischen Auszeichnungen in Europa verliehen wird. Boehm, Direktor am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg, erhält in Hamburg den mit 300 000 Euro dotierten Ernst-Jung-Preis für Medizin.

 

Forschen heißt für den gelernten Kinderarzt: die Ärmel hochkrempeln und loslegen, Rückschläge wegstecken, neue Eisen schmieden. „Das Tagesgeschäft ist oftmals unglaublich zäh“, räumt Boehm offen ein. Trotzdem spricht er in der Rückschau von einem „sehr glücklichen Berufsweg“. Denn seine Hartnäckigkeit und Geduld wurden immer wieder mit Erkenntnis belohnt. „Bahnbrechend“ nennen andere diese Entdeckungen.

Dabei forscht der gebürtige Hesse, dem man seine Herkunft noch immer anhört und der bis heute seinen Apfelwein nach Baden importiert, an einem Organ, von dem viele Menschen noch nicht einmal wissen, dass sie es besitzen. Wenn überhaupt, kennen sie Thymus als Kalbsbries auf den Tellern ambitionierter Restaurants. Doch ohne den Thymus wäre der Mensch nicht lebensfähig, sein Abwehrsystem unvollkommen und hilflos.

Die Steuerzentrale des Immunsystems

Der Thymus macht aus unspezifischen weißen Blutkörperchen schlagkräftige Abwehrzellen, die T-Zellen. Das nur wenige Zentimeter große Organ gilt als eine der zentralen Steuereinheiten des Immunsystems und liegt beim Menschen oberhalb des Herzens. Reife T-Zellen erkennen körperfremde Stoffe ebenso wie Tumorzellen und bekämpfen diese Feinde gezielt. Eine Herkulesaufgabe, für die die T-Zell-Vorläufer im Thymus mit Rezeptoren ausgestattet werden müssen. Damit der Körper gegen jeden nur denkbaren Eindringling gewappnet ist, kann er eine schier unbegrenzte Zahl dieser Erkennungsstellen bilden. Das verhilft den T-Zellen auf der einen Seite zu ihrer Kampfkraft, macht sie auf der anderen Seite aber gefährlich. Denn der Zufall sichert die Vielfalt, und so entstehen auch Rezeptoren, die körpereigenes Gewebe angreifen. „Diese muss der Organismus sofort wieder loszuwerden“, erklärt Boehm, „und da der Körper gegen sich selbst gerichtete T-Zellen nicht zurückrufen kann wie ein Autobauer ein fehlerhaft ausgeliefertes Modell, muss die Qualitätskontrolle am Produktionsort, also im Thymus selbst, erfolgen.“ Funktioniert dies nicht perfekt, entstehen Autoimmunkrankheiten.

Die Karriere des 57-Jährigen begann in den frühen 1980er Jahre in seiner hessischen Heimat an der Frankfurter Uniklinik. Seine erste Zeit als junger Kinderarzt verlief allerdings völlig anders, als er gehofft hatte. Oft konnte er kaum etwas für seine jungen Patienten tun. „Das traf mich schon sehr“, räumt der Forscher ein und schüttelt heute noch den Kopf, wenn er darüber spricht, wie wenig er und seine Kollegen damals über die Ursachen vieler Erkrankungen wussten. Er wollte seinen Teil dazu beitragen, dass sich das ändert.

Wie Zellen der Immunabwehr zu Krebszellen werden

Anfangs forschte er hauptsächlich nachts, wenn andere schliefen. Tagsüber half er am Krankenbett. Gern erinnert er sich nicht an diese Zeit. „Das war enorm schwer.“ Aber er hatte Erfolg. Er konnte nachweisen, dass es Abschnitte im menschlichen Erbgut gibt, die T-Zellen zu Krebszellen machen. Damit hatte Boehm nicht nur die ersten Onkogene bei T-Zell-Leukämien gefunden, sondern er wusste auch, er war auf dem richtigen Weg. Der würde ihn weiterhin hinab in die Tiefe führen, zu jenen grundlegenden Prozessen, die über Gesundheit oder Krankheit entscheiden.

Mittlerweile konzentrierte sich Boehm ganz aufs Forschen und begann mit den Arbeiten am Thymus. Sein Ziel blieb weiterhin, Krankheiten zu heilen. Doch statt Kindern untersuchte er von nun an vor allem Tiere: Mäuse, Haie und so ungewöhnliche Geschöpfe wie das Neunauge. Die kieferlosen Fische gelten als lebende Fossilien und haben sich in 500 Millionen Jahren Erdendasein kaum verändert. „Es mag auf den ersten Blick abwegig anmuten, diese altertümlichen Lebewesen zu studieren“, räumt der Wissenschaftler ein. Zumal klassische Modellorganismen wie der Fadenwurm oder der Zebrafisch viel einfacher zu untersuchen sind. Hartnäckigkeit und ein langer Atem waren verlangt. „Doch jetzt ist klar, dass alle Wirbeltiere über einen Thymus verfügen, und wir kennen die Komponenten, die für die Funktion des Thymus unverzichtbar sind.“ Denn obwohl 500 Millionen Jahre den Fisch vom Menschen trennen, funktioniert die Qualitätskontrolle bei der Auswahl der Abwehrzellen in beiden Spezies ähnlich.

Die Abwehrzellenfabrik nachgebaut

Das Prinzip war verstanden, Boehm war der Sache auf den Grund gegangen. Jetzt konnte er versuchen, Thymusgewebe nachzubauen. Mit Hilfe einer künstlichen Thymusdrüse sollen langfristig fehlerhafte T-Zellen ersetzt und (Auto-)Immunerkrankungen behandelt werden können. Ein einfaches Modell sollte es werden, vergleichbar einem Kleinwagen, der nur mit den nötigsten Dingen – Motor, Bremse, Lenkrad, Gaspedal und Kupplung – ausgestattet ist. „Um T-Zellen auf den Entwicklungsweg zu schicken, braucht es nicht sehr viele Faktoren“, erklärt der Forscher. Die meisten Elemente des komplizierten menschlichen Thymus steigern dessen Effizienz, beeinflussen aber die Entwicklung der T-Zellen nicht.

Baustein um Baustein fügte Boehm zusammen und machte die entscheidende Entdeckung: Thymusgewebe baut sich selbstorganisierend auf, wenn man die richtigen Komponenten zusammenbringt. Allerdings gelingt das nur in einem Organismus wie der Maus. In Zellkultur lässt sich künstliches Thymusgewebe nicht heranziehen. Das macht die Studien kompliziert und langwierig. Trotzdem ist es Thomas Boehm und seiner Arbeitsgruppe gelungen, künstliches Thymusgewebe zu erzeugen, in dem sich T-Zellen entwickelt haben. Dafür und für den Weg dorthin erhält er heute den Ernst-Jung-Preis für Medizin.

Der Preisträger

Immunbiologe
Thomas Boehm studierte Medizin an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo er 1982 promovierte und sich 1988 habilitierte. Einer fünfjährigen Tätigkeit am MRC Laboratory of Molecular Biology in Cambridge folgten eine Professur für Medizinische Molekularbiologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und eine Professur für experimentelle Therapie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Seit 1998 ist Boehm Direktor des Arbeitsbereichs Entwicklung des Immunsystems am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg. 1997 wurde er mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis ausgezeichnet.