Rund 200.000 Deutsche erleiden jedes Jahr einen Hörsturz. Die meisten Kassen weigern sich trotzdem, die Therapie zu bezahlen – angeblich mangels erwiesener Wirksamkeit. Zu Recht?

Freiburg - Auf einmal klang der Chef so komisch: Ihren ersten Hörsturz erlebte Anke Pfister am Telefon. Liegt wohl an der schlechten Handy-Verbindung, dachte die Bankangestellte zunächst, als sie die Anweisungen des Abteilungsleiters auf einmal wie durch Watte vernahm. Als sie danach auch mit dem bloßen Ohr kaum noch hörte, ging sie zum Arzt. „Natürlich hat man riesige Angst, sein Gehör zu verlieren“, sagt die inzwischen 62-Jährige. Eine Infusion sollte helfen und die angeblich kritische Durchblutung in dem Organ verbessern. Zwanzig Jahre und ein paar weitere Attacken später legt sie bei einem Hörsturz nur noch die Beine hoch und wartet.

 

Wenn es nach dem Igel-Monitor geht, macht sie damit zumindest keinen schwerwiegenden Fehler. Das Bewertungsportal der Krankenkassen hat in den letzten Jahren alle gängigen Hörsturz-Behandlungen unter die Lupe genommen. Mit der Cortison-Therapie hielt vor wenigen Wochen auch das letzte Verfahren der Prüfung nicht stand. „Tendenziell negativ“ lautete das Urteil. Ähnlich stuft der Dach- und Spitzenverband der Kassen die Behandlungen ein: „Ein therapeutischer Nutzen konnte bisher nicht wissenschaftlich belegt werden.“

Cortison, Infusionen, Sauerstoff

Deshalb würden weder Cortison-Tabletten noch durchblutungsfördernde Infusionen oder die hyperbare Sauerstofftherapie in den Kassenkatalog aufgenommen. Verzweifelten Patienten bleibt damit oft nur eine Wahl: Selbst in die Tasche zu greifen und dem HNO-Arzt die Hörsturzbehandlung als sogenannte Igel-Leistung aus eigener Tasche abzukaufen.

Wie kann das sein? Bereits vor 70 Jahren entdeckte die Medizin, dass auch völlig gesunde Menschen plötzlich Taubheit und Tinnitus bekommen können. Jährlich sind in Deutschland mehr als 200 000 Personen betroffen. Und noch immer hat keiner ein wirksames Mittel gefunden?

Tatsächlich gibt es beim Hörsturz noch viele Unbekannte: „Wir wissen nicht genau, was dabei im Ohr passiert“, sagt der Direktor der HNO-Abteilung der Uniklinik Halle, Stefan Plontke. Um die leisen Töne, die im Innenohr ankommen, für das Gehirn als Stromsignale verständlich zu machen, werden die Impulse von den Sinneszellen verstärkt, besagt eine Hypothese. Das elektrische Potenzial im Innenohr sorgt dafür, dass bestimmte Ionen besonders schnell und kräftig in die Zellen strömen. Im Inneren der Gehörschnecke herrscht ein empfindliches Gleichgewicht der Flüssigkeiten und Mineralien. Diese Balance ist wahrscheinlich beim Hörsturz gestört.

Oft verschwinden Symptome von selbst

Bei sechs von zehn Betroffenen kehrt das Ohr von alleine in den Ursprungszustand zurück, die Symptome verschwinden schon nach ein paar Tagen. Aber es gibt eben auch den anderen Teil der Patienten: Bei ihnen halten die Sinneszellen wahrscheinlich dem Stress nicht stand und tragen einen dauerhaften Schaden davon. Manche können auf dem betroffenen Ohr sogar langfristig gar nichts mehr hören.

Als Auslöser kommen verschiedene Möglichkeiten in Frage: Ein Durchblutungsproblem im Inneren des Ohres, eine Immunreaktion im Körper, die auch die Ohrmembranen durchlässiger macht, oder akustische Überlastungen. Sicher ist dies alles nicht, aber auf irgendetwas mussten die Mediziner ja ihre Therapien ausrichten. Also versuchten sie, durch Infusionen mit Blutverdünnern wieder für einen besseren Blutfluss im Ohr zu sorgen, gaben gerinnungshemmende Mittel oder setzten auf eine Art Schrotschussmethode: Sie spritzten Cortisonpräparate.

Bei Tieren hilft Cortison

Das Hormon und seine künstlichen Abkömmlinge greifen gleich an mehreren potenziellen Störstellen an: Sie bremsen Entzündungen, schützen die Zellen, lenken Flüssigkeits- und Ionenströme – auf irgendeine Art wird die Allzweckwaffe schon helfen, so die Spekulation der Mediziner. Schließlich gab es dafür gewichtige Anhaltspunkte. Setzt man Mäuse zwischen zwei Lautsprecher, überstehen ihre Ohren die Tortur am besten, wenn man sie gleichzeitig in ein winziges Kästchen sperrt. Der Spiegel des Stresshormons Cortison schießt nach oben – und die Ohren bleiben heil. Eine Beobachtung, die für Plontke und die meisten anderen Experten nahelegt, dass Stress – anders als von vielen angenommen – gerade nicht für einen Hörsturz prädestiniert. Aber ein erfolgreicher Tierversuch ist keine Garantie, dass dasselbe auch beim Menschen funktioniert.

Genau hier setzt die Kritik der Krankenkassen an. Zwar hat man immer wieder versucht, den Erfolg der Cortisontherapie nachzuweisen. Aber entweder waren die Probandenzahlen sehr klein, die Studien unsauber, oder es handelte sich nur um einen nachträglichen Vergleich, der zeigte, dass mit dem Hormon therapierte Betroffenen einen Hörsturz besser überstanden.

Ein Regal voller Verfahren

Betroffenen wird heute in Praxen und Kliniken oft ein ganzes Warenregal voller Verfahren angeboten, mit denen die Ärzte mal mehr, mal weniger Geld verdienen. Das sei keine akzeptable Situation, findet Stefan Plontke. Er hat mit Kollegen an vierzig anderen deutschen Zentren die sogenannte Hodokort-Studie gestartet. Mit Hilfe der rund 300 Teilnehmer will er endgültig klären, ob Cortison beim Hörsturz hilft und in welcher Dosis und Verabreichungsform – als Tablette oder als Infusion – es am erfolgreichsten ist. Noch tue man sich schwer, geeignete Patienten zu finden, berichtet der Mediziner. Denn das Hormon ist nicht ohne Nebenwirkungen. Gerade bei Diabetikern und Hochdruckkranken kann es viel durcheinanderbringen. Erste Ergebnisse soll es in in drei Jahren geben.

Und bis dahin? Die deutsche Leitlinie spricht sich im Notfall klar für eine intravenös gegebene Hochdosis-Cortison-Therapie über drei Tage aus. Von allen anderen Verfahren wird abgeraten. Dazu zählt auch das oft noch verabreichte Steroid-Hormon in niedriger Dosierung. Irgendeine Behandlung müsse man den Patienten schließlich anbieten, sagt Stephen O’Leary, Autor einer kritischen Cochrane-Studie zum Thema. „Vielleicht haben wir noch keine gerichtsfesten Beweise für den Erfolg der Cortisontherapie, aber wir haben zumindest sehr deutliche Hinweise“, so der HNO-Arzt von der Universität Melbourne.

Die deutschen Kassen sehen das anders und zahlen oft nur die Hörsturz-Diagnose und die Behandlung der Folgeschäden. Unterstützt werden sie darin ausgerechnet vom Berufsverband der HNO-Ärzte. Der propagiert schon seit Jahren, die Kosten auf den Patienten abzuschieben und die Behandlung als Igel-Leistung abzurechnen. Damit lässt sich deutlich mehr verdienen als mit einer Kassenleistung.

Gängige Igel-Leistungen

Rheologika
Ähnlich wie sogenannte Plasmaexpander sollen diese Präparate das Blut flüssiger machen und die Blutversorgung im Ohr verbessern. „Man hat trotz vieler Studien nie zeigen können, dass man den Patienten mit diesen Infusionen hilft“, sagt der HNO-Arzt Olaf Michel von der Uni Brüssel. Die Expertenkommission der Leitlinien äußert sich auch sehr deutlich: „Diese Substanzen können nicht für die Therapie des Hörsturzes empfohlen werden.“ Bei Haes-Plasmaexpandern wird zudem auf mögliche gefährliche Nebenwirkungen verwiesen.

Hyperbare Sauerstofftherapie
Sie ist mit bis zu 200 Euro besonders teuer. Durch den Überdruck in einer Kammer soll mehr Sauerstoff in die womöglich unterversorgten Ohren gepresst werden. Michels ist auch hier zurückhaltend: „Die Methode kommt nur für jüngere und gesündere Patienten überhaupt in Frage“, sagt er. Zudem seien die möglichen Nebenwirkungen wie Mittelohrentzündungen nicht unerheblich. Laut einer Auswertung des kritischen Cochrane-Netzwerks sei eine geringe Wirkung zwar nicht auszuschließen, allerdings suchten einige Studien vergeblich nach einem Effekt.

Intratympanale Cortisontherapie
Wenn Cortison direkt durchs Trommelfell gespritzt wird, soll mehr davon in der Hörschnecke ankommen, so die Idee. Patienten hilft das laut Studien trotzdem nicht mehr als die herkömmliche Cortisonbehandlung. „Primär empfehlen wir deshalb weiter die Hochdosistherapie“, sagt Stefan Plontke. Erst wenn diese nicht anschlägt kommt für die meisten Kliniken die intratympanale Applikation in Frage. Wenn auch diese nicht funktioniert, kann man durch eine Operation das Cortison noch näher ans Innenohr heranbringen. Allgemein gilt der Hörsturz nicht mehr als Notfall, wegen dem man sofort ins Krankenhaus gehen muss. In der Regel könne man bis zu drei Tage abwarten, ob die Symptome von selbst verschwinden, so Michel