Neue Medikamente, die Angiogenesehemmer, schneiden dem Krebs die Blutzufuhr ab. Doch die Nebenwirkungen sind beträchtlich. Eine durchwachsene Bilanz.

Stuttgart - Wenn ein Tumor erst ein bis zwei Millimeter groß ist, kann er sich nicht mehr aus dem umliegenden Gewebe versorgen, sondern ist auf Sauerstoff und Nährstoffe aus dem Blut angewiesen. Die Krebszellen sondern daher Botenstoffe ab, die die Blutgefäße dazu veranlassen, in Richtung des Tumors zu wachsen. Angiogenese nennt die medizinische Fachwelt diesen Vorgang. Und die Angiogenesehemmer sind neuartige Arzneimittel, die versuchen, das zu verhindern und somit das Tumorwachstum zu verlangsamen.

 

Je nach Präparat kosten die Mittel monatlich zwischen 3300 und 4000 Euro, und ihr Einsatz – vor allem bei bereits metastasiertem Krebs – ist zuletzt in die Diskussion geraten. Der Wirkstoff Bevacizumab (Handelsname Avastin) ist besonders interessant, weil er bei den meisten Patienten einsetzbar ist. „Wir hatten, was die Brustkrebstherapie anbelangt, große Hoffnungen in Avastin gesetzt“, sagt die Leiterin des Brustzentrums der Universität München, Nadia Harbeck. „Aber der Ansatz hat keinen Durchbruch gebracht.“ Zwar scheinen manche Patientinnen davon zu profitieren, doch Harbeck und ihre Kollegen wissen noch nicht, woran man sie erkennt.

Frederik Marmé, Oberarzt für medikamentöse gynäkologische Onkologie an der Uniklinik Heidelberg, bestätigt den Eindruck. „Wir sehen bei Brustkrebs keine Verlängerung des Gesamtüberlebens, obgleich die Patienten gut auf Avastin ansprechen“, sagt er. Das gilt für fast alle mit Angiogenesehemmern behandelten Krebserkrankungen. Gunnar Folprecht, Leiter der onkologischen Tagesklinik des Uniklinikums Dresden, stellt bei Darmkrebs fest, dass „Avastin die Kombination von Chemotherapeutika nicht ersetzen und den Tumor nicht heilen kann“. Immerhin bestehe hier eine zusätzliche Möglichkeit, das Überleben von Patienten zu verlängern.

Die Zwischenbilanz ist durchwachsen

Möglicherweise gibt es schon bald eine weitere Alternative. Für metastasierten Darmkrebs ist gerade eine Studie mit dem Entwicklungspräparat Regorafenib der Firma Bayer zu Ende gegangen. Es kann demnach die Gesamtüberlebenszeit um 29 Prozent verlängern. Eine positive Ausnahme für Avastin ist laut Folprecht der Nierenzellkrebs, der in besonderer Weise von der Blutversorgung abhängt. Hier könne Avastin relativ gut helfen.

Nach der anfänglichen Euphorie ist die Beurteilung der Angiogenesehemmer mittlerweile etwas durchwachsen. Bereits 2009 haben zwei Studien einigen Onkologen Sorgenfalten ins Gesicht getrieben. Die Ergebnisse ließen vermuten, dass bei Mäusen die Angiogenesehemmer Sunitinib (Handelsname Sutent) und Sorafenib (Handelsname Nexavar) zwar das Tumorwachstum verlangsamen, dafür aber die Tumore verstärkt in umliegendes Gewebe eindringen und mehr Metastasen bilden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine jüngst im Fachmagazin „Cancer Cell“ veröffentlichte Untersuchung.

Bei manchen Arzneien bilden sich mehr Metastasen

In Versuchen mit Mäusen und bei Untersuchungen von menschlichem Tumorgewebe fanden die Forscher der Harvard-Universität aus Boston zum Beispiel für Sunitinib, dass es zwar Brustkrebstumore um etwa ein Drittel schrumpfen ließ, aber gleichzeitig die Rate der Metastasierung verdreifacht. Das könnte daran liegen, dass Sunitinib bestimmte Zellen in der Blutgefäßwand zerstört, die sogenannten Perizyten. Die Perizyten fördern zwar die Blutversorgung des Tumors, verhindern offenbar aber auch seine Ausbreitung. Wenn man sie zerstört, blockiert man beide Effekte. Zusätzlich starten die mit Sauerstoff schlecht versorgten Krebszellen wohl ein genetisches Notprogramm. Sie werden dadurch insgesamt mobiler.

Allerdings wurden diese Effekte bisher nur im Tiermodell direkt nachgewiesen. Wird den Mäusen gemeinsam mit Sunitinib ein Mittel verabreicht, das die Mobilisierung der Krebszellen hemmt, dann nimmt die Metastasierung nicht zu. „Die Übertragbarkeit von Daten aus dem Tiermodell auf den Menschen ist trotz allem immer fraglich“, gibt Frederik Marmé zu bedenken. Weitere Untersuchungen müssen daher Klarheit schaffen.

Die Zulassungsbehörden sind sich nicht einig

Avastin wiederum wirkt auf andere Weise: Es blockiert den Botenstoff VEGF, der das Wachstum von Blutgefäßen anregt. „Tatsächlich zerstört dieser Antikörper im Gegensatz zu Sunitinib keine Perizyten. In unseren Experimenten haben nur Medikamente, die direkt die Perizyten auf den Blutgefäßen angreifen, die Metastasierung erhöht“, so die Aussage des Studienleiters Raghu Kalluri von der Harvard-Universität. Dieses Ergebnis für Avastin überrascht Nadia Harbeck nicht: Sie und ihre Kollegen haben in den vorliegenden Studien keine Hinweise darauf gefunden, dass Avastin das Wachstum der Metastasen beeinflusst.

Dafür hat Avastin ein anderes Problem: die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA sieht ein ungünstiges Verhältnis von Nutzen und Risiko und hat die vorläufige Zulassung für metastasierenden Brustkrebs Ende 2011 zurückgezogen. Einen Beleg dafür, dass Avastin das Leben verlängert oder die Lebensqualität verbessert, sieht die FDA nicht. Aber das Medikament kann heftige Nebenwirkungen wie schweren Bluthochdruck, Blutungen, Herzinfarkt oder Herzinsuffizienz haben.

„Die bei Avastin und auch bei den anderen Angiogenesehemmern auftretenden Nebenwirkungen sind normalerweise im Alltag relativ gut zu managen“, versucht Frederik Marmé zu beruhigen. Die Herstellerfirma Roche musste laut der Zeitschrift „Arzneitelegramm“ die Umsatzprognosen für sein umsatzträchtigstes Produkt Avastin nach unten korrigieren. Der europäische Markt bleibt dem Konzern erhalten, denn die europäische Zulassungsbehörde Emea hat das Nutzen-Risiko-Verhältnis anders bewertet. Weshalb die Bewertung durch zwei Arzneibehörden so unterschiedlich ausfällt, lässt viel Raum für Spekulationen. Und wie man zwischen Nutzen und Risiko abwägt, hängt sicher auch davon ab, ob man das Urteil als Krebspatient mit wenigen Monaten verbleibender Lebenszeit fällt oder als gesunder Mensch.