Schon ein vergleichsweise harmloser Eingriff wie eine Beschneidung kann bei Kleinkindern Folgen haben, wenn die Betäubung die geistige Entwicklung beeinflusst. Deutsche Ärzte halten die bisherige Praxis aber bereits für sehr vorsichtig.

Stuttgart - In jüngster Zeit sind Stimmen laut geworden, die für ein Gesetz plädieren, das religiös motivierte Beschneidungen von Jungen erlaubt – so sie denn schmerzfrei durchgeführt werden, also mit einer Betäubung. Eine Studie, die amerikanische und australische Wissenschaftler soeben in einer Online-Vorabversion der Fachzeitschrift „Pediatrics“ veröffentlicht haben, zeigt nun, dass diese Schmerzfreiheit selbst bei einem relativ harmlosen Eingriff wie der Zirkumzision für das Kind langfristige Folgen haben kann.

 

Denn die Untersuchung ergab, dass eine Narkose die Entwicklung des kindlichen Gehirns beeinflussen kann. Wer demnach vor seinem dritten Geburtstag eine Betäubung erfahren hatte, konnte sich im Alter von zehn Jahren schlechter sprachlich ausdrücken und hatte geringere geistige Fähigkeiten, was etwa abstraktes Denken betraf. Bei den sprachlichen Tests, bei denen die Kinder im Durchschnitt etwa 100 Punkte erreichten, schnitten die bereits einmal betäubten Kinder um etwa 3,5 Punkte schlechter ab als ihre Altersgenossen, die noch nie narkotisiert worden waren. Das Risiko, mit zehn Jahren an einem Sprachdefizit zu leiden, war bereits bei einfach operierten Kindern zweieinhalb Mal höher als bei nicht operierten. Ihr Risiko, später bei anspruchsvollen abstrakten Aufgaben nicht mithalten zu können, stieg um das 1,7-Fache. Dabei spielte es so gut wie keine Rolle, ob es sich nur um einen kleineren, harmlosen Eingriff oder gleich mehrere Operationen handelte.

Ob eine Narkose oder mehrere scheint keine Rolle zu spielen

Die Forscher analysierten insgesamt 2608 Datensätze, die sich aus einer australischen Schwangerenstudie ergaben. Die Kinder waren alle zwischen 1989 und 1992 geboren. Bis zum Alter von zehn Jahren verfolgten die Wissenschaftler ihre Entwicklung und machten mit den Zehnjährigen umfangreiche Tests. Um sozioökonomische Faktoren auszuschließen, bezog man ausschließlich Daten von Kindern englischsprachiger Mütter ein. 321 dieser Kinder waren vor ihrem dritten Geburtstag einer Narkose unterzogen worden, die übrigen 2287 Kinder nicht. In der Regel handelte es sich nicht um schwere Operationen wie Herzeingriffe, sondern um relativ harmlose: Am häufigsten wurde den kleinen Patienten das Trommelfell durchstochen (112), auf Platz zwei rangierten Nabelbruchoperationen (46) und Platz drei nahmen Beschneidungen (41) ein. Jungen waren in der Gruppe der bereits einmal betäubten Kinder deshalb auch häufiger vertreten als Mädchen.

Die Daten stünden in Einklang mit Ergebnissen aus der Tierforschung, schreiben die Mediziner. Dort sei bereits seit Längerem bekannt, dass Narkotika kognitive Langzeitdefizite und Verhaltensänderungen bewirken. Bei Tieren scheint die empfindliche Phase der Hirnentwicklung jedoch nur zwischen dem 7. und 30. Lebenstag zu liegen. Beim Menschen dauere sie dagegen bis zum dritten Lebensjahr.

Studienleiter Caleb Ing von der Columbia-Universität in New York weist darauf hin, dass negative Auswirkungen von Betäubungen auf sprachliche und geistige Fähigkeiten bei Kindern durch Narkotika bisher nicht ermittelt worden seien. Zwar hätte es Hinweise auf kognitive Einschränkungen gegeben, aber nur bei Kindern, die sich mehrfach operativen Eingriffen unterziehen mussten. In dieser neuen Studie habe man nun aber erstmals zeigen können, dass selbst einmalige Betäubungen bei vergleichsweise harmlosen Eingriffen langfristige Folgen im sprachlichen und kognitiven Bereich nach sich ziehen. Im visuellen Bereich, bei der Aufmerksamkeit, bei motorischen Fertigkeiten und hinsichtlich des sozialen Verhaltens konnten die Wissenschaftler dagegen keine Unterschiede erkennen. Sie plädieren daher dafür, die Forschung auszuweiten, um die Nebenwirkungen der Betäubung auf Kleinkinder genauer zu untersuchen.

Die Reaktionen deutscher Ärzte auf die Studie

Sollte die Narkose bei Kleinkindern nun überdacht werden? Deutsche Ärzte sehen dazu keinen zwingenden Anlass, erinnern aber daran, dass jeder Eingriff hinsichtlich seiner Notwendigkeit medizinisch gut begründet sein sollte. Franz-Josef Kretz, Ärztlicher Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin sowie Ärztlicher Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin am Olgahospital in Stuttgart, bestätigt zwar Hinweise auf eine schädigende Wirkung von Narkotika auf das sich entwickelnde Gehirn aus tierexperimentellen Studien. Doch sei die Narkose in Tierexperimenten nicht vergleichbar mit den hohen Sicherheitsstandards einer Narkose bei Kindern in modernen Operationssälen. Dort würden Stoffwechsel und Kreislauf überwacht. Außerdem seien die Narkosen im Tierexperiment oft viel stärker und länger als in der klinischen Praxis.

Er sieht zudem eine methodische Schwachstelle der neuen Untersuchung. „Eine große Zahl der Kinder, von denen darin berichtet wird, brauchten eine Narkose zu Ohroperationen“, sagt Kretz. „Das heißt, sie hatten bereits Hörprobleme und infolgedessen auch Sprachentwicklungsstörungen vor Narkose und Operation.“ Ob die später festgestellten sprachlichen Defizite auf die Narkose oder die Hörschwäche zurückgehen, lasse sich in der Untersuchung nicht feststellen.

Chirurgen wägen ab, ob eine Operation sein muss

Trotzdem hält Kretz Vorsicht für angebracht und betont, dass sie auch praktiziert werde. Kein Operateur mache es sich einfach, im frühen Kindesalter Operationen vorzunehmen. Deshalb würden Bagatelleingriffe, soweit es geht, ins spätere Kindesalter verschoben. Das bestätigt der Anästhesist Stefan Hofer von der Universität Heidelberg: Man dürfe „nicht vergessen, dass es immer eine Indikation für Narkose geben“ müsse, nämlich „einen operativen Grund“. Auch er will zudem die Narkosen in Tierversuchen nicht überbewerten, da die Ergebnisse nicht gut auf den Menschen zu übertragen seien.

Zudem sei Narkose nicht gleich Narkose, sagt Hofer. Jüngste Ergebnisse aus der Erwachsenen-Medizin würden sogar einen schützenden Ansatz für Narkotika zeigen. So habe eine kürzlich im Fachmagazin „Brain“ veröffentlichte Studie gezeigt, an der Heidelberger Neurochirurgen beteiligt waren, dass das Narkosemittel Ketamin ein Absterben von Nervenzellen nach schweren Hirnverletzungen verhindern könne. Auch hier wird allerdings auf vorherige Erfahrungen in der Tiermedizin verwiesen.

Hofer hebt ebenfalls eine Schwierigkeit der aktuellen Studie hervor: Die untersuchten Kinder seien alle vor rund 20 Jahren geboren worden. Seitdem habe sich aber viel verändert. Vor allem – und das hält Hofer für den wichtigsten Punkt – erfolge der Einsatz der Betäubungssubstanzen heute differenzierter. Der Mediziner betont, dass er „nicht gerne rituelle Zirkumzisionen betäuben möchte“. Andererseits habe jedoch „eben auch Schmerz seine kognitive Wirkung auf die Kinder“.