Der Fall eines fälschlich für hirntot erklärten Jungen sorgt in England für Aufsehen. Deutsche Experten versichern, er sei hierzulande undenkbar.

Stuttgart - Der Fall bewegt die britische Presse: ein vor vier Jahren von Ärzten für hirntot erklärter junger Mann studiert heute am College. Und zwar nur deshalb, weil sein Vater den Klinikärzten damals nicht geglaubt und stattdessen eine Privatärztin engagiert hatte. Die zuständige Universitätsklinik in Coventry sah sich zu einer Erklärung gezwungen und betont, es handle sich um einen „Einzelfall“ und sei „extrem selten“, dass ein Patient, der ein derart schweres Hirntrauma erlitten habe, überlebe. Die Verletzung in Stevens Hirn sei „extrem kritisch“ gewesen, mehrere Scans im Computertomografen hätten irreversible Schäden gezeigt.

 

Die Privatärztin Julia Piper aus Leicester sagte dem Sender BBC, so etwas könne „öfters vorkommen“. Sie selbst habe nur auf die Eltern gehört – das sollten die Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes auch häufiger tun. Selbst ein Neurologe des Queen’s-Krankenhauses in Nottingham, den Piper um eine Zweitmeinung bat, hatte den jungen Mann aufgegeben.

Der inzwischen 21-jährige Steven war damals in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt. Die Ärzte versetzten ihn in ein künstliches Koma und öffneten seine Schädeldecke, um Schwellungen im Hirn einzudämmen. Zwei Tage später erklärten vier Ärzte den jungen Mann für hirntot und sprachen die Eltern auf eine Organspende an. Stevens Vater entdeckte aber noch ein Zucken am Körper seines Sohnes und zog deshalb die Privatärztin zu Rate. Steven wurde weiterbehandelt und konnte nach sieben Wochen die Klinik verlassen. Er bekommt jetzt Physiotherapie, weil sein linker Arm immer noch taub ist. Ansonsten führt der „Hirntote“ ein normales Leben.

„Die Engländer machen das etwas lockerer“

Der Fall zeigt nach Ansicht deutscher Experten vor allem ein Dilemma: der Begriff „Hirntod“ ist zwar weltweit akzeptiert, aber je nach Land gibt es Unterschiede in den diagnostischen Kriterien. Während hierzulande das Gesamthirn tot sein muss, reicht in England der endgültige Ausfall des Hirnstamms zur Todesdiagnose. So kann es vorkommen, dass einzelne Teilfunktionen der Großhirnrinde und damit Reste von Wahrnehmung nicht ausgeschlossen werden können. „In England kann es also vorkommen, dass Patienten mit Locked-in-Syndrom, bei denen der Hirnstamm zwar tot, das Großhirn aber noch intakt ist, Organe entnommen werden“, erklärt Günter Kirste, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Der Fall Steven zeige, wie wichtig es sei, an der Regelung des Gesamthirntods festzuhalten, wie sie in Deutschland und fast allen anderen Ländern praktiziert werde.

Für Andreas Unterberg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin und Ärztlicher Direktor der Neurochirurgischen Uniklinik Heidelberg, ist der Vorfall „schlicht peinlich“. Er hält es für „ausgeschlossen und unmöglich“, dass so etwas in Deutschland passieren könnte: „Die Engländer machen das etwas lockerer. In Deutschland muss das Gesamthirn tot sein, also Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm.“ Der Mediziner vermutet zudem, dass man bei Steven nicht lange genug gewartet habe, bis die Medikamente aus dem Körper verschwunden waren. Dadurch könnte das Ergebnis verfälscht worden sein. „Wir machen hier auch immer noch eine Blutentnahme. Erst wenn der Medikamentenspiegel unter einem bestimmten Wert ist, darf man bei uns mit der Hirntoddiagnostik beginnen. Nach einem künstlichen Koma kann das länger dauern.“

Nikolai Hopf, Ärztlicher Direktor der Neurochirurgischen Klinik am Klinikum Stuttgart, findet es „extrem schwierig“, bereits nach zwei Tagen einen Patienten endgültig aufzugeben. Grundsätzlich sei es ein „sehr heikles Thema“, denn die Methoden der Hirntoddiagnostik würden auch in Deutschland „immer wieder sehr sensibel diskutiert“. Liegt ein deutscher Patient also in einer ausländischen Klinik, dann gelten die dortigen Regeln. Theoretisch könnte also ein Patient in England für tot, in Deutschland für lebend erklärt werden. „Das ist leider so“, sagt Hopf, „im anderen Land gelten auch die dortigen Regeln.“