In Reutlingen entwickeln Forscher eine Therapie, die nach einem Bandscheibenvorfall den Knorpel regeneriert. Die erste klinische Studie läuft schon. In spätestens fünf Jahren soll die Behandlung auf dem deutschen Markt verfügbar sein, versprechen die Forscher.

Stuttgart - Kennen Sie das? Plötzlich treten starke Rücken- oder Nackenschmerzen auf, die in die Beine oder Arme ausstrahlen. Sie haben das Gefühl, Ameisen wandern längs Ihrer Gliedmaßen oder es ist alles pelzig – das ist ein deutlicher Hinweis auf einen Bandscheibenvorfall. In einem Gemeinschaftsprojekt haben die Firma Tetec in Reutlingen und das Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut (NMI) an der Universität Tübingen eine neue Therapie entwickelt, die die Bandscheibe wieder regenerieren soll.

 

Möglich wird dies durch die Kombination von Bandscheibenzellen und weiteren Biomaterialien. Diese Mischung wird in die Bandscheibe gespritzt. Damit wollen die Forscher auch verhindern, dass sich die Degeneration auf andere Segmente ausweitet. Derzeit werden beschädigte Bandscheiben häufig durch ein künstliches Implantat, also durch Prothesen, ersetzt oder die angrenzenden Wirbelkörper miteinander versteift, wenn bestimmte Formen von Rückenschmerzen und Wirbelsäulenveränderungen vorliegen. Das macht den betroffenen Abschnitt der Wirbelsäule aber unbeweglich, was sich negativ auf die benachbarte Bandscheibe auswirkt. Auch sie degeneriert häufig im Lauf der Zeit, so dass erneut ein Bandscheibenvorfall entstehen kann.

Wie gehen die Mediziner vor? An die Bandscheibenzellen gelangen sie, wenn ein Bandscheibenvorfall so große Probleme bereitet, dass er doch operativ entfernt werden muss. Die Knorpelzellen werden nach der Operation aus dem entfernten Bandscheibengewebe des Patienten isoliert und im Labor einige Wochen lang vermehrt. Außerdem werden zwei Substanzen beigemischt. Welche das sind, ist ein Geheimnis. „Das ist wie bei über mehrere Generationen überlieferten Rezepten. Die geben die Chefköche auch nicht preis“, sagt der Geschäftsführer von Tetec, Christoph Gaissmaier. Nur so viel: sie sollen den Zellstoffwechsel verbessern und so die Zellen der Bandscheibe wieder aufpäppeln.

Vor der Injektion werden die Knorpelzellen fixiert

Die im Labor vermehrten Zellen werden mit einem Biomaterial kombiniert. Es enthält Humanalbumin, Hyaluronsäure und Chondroitinsulfat, die große Wassermengen binden können und entzündungshemmend wirken. Außerdem stören sie das An- und Einwachsen von Gefäß- und Nervenzellen. Mittlerweile ist bekannt, dass das Einwachsen solchen Gewebes in eine degenerierende Bandscheibe wesentlich zur Schmerzentstehung beiträgt. Die gesunde Bandscheibe ist dagegen frei von Blutgefäßen und Nervenfasern. Außerdem soll das Biomaterial den Wassergehalt in der ausgetrockneten Bandscheibe erhöhen.

Die Knorpelzellen, die Wachstumsfaktoren und das Biomaterial werden mit einer Spezialspritze in die Bandscheibe injiziert: In der einen Injektionskammer befindet sich die beschriebene Mischung, in der anderen ein sogenannter Quervernetzer. Wenn sie gemeinsam in die Bandscheibe injiziert werden, bewirkt der Vernetzer, dass das Biomaterial sich wie Pudding verfestigt. Die Knorpelzellen sind dann in diesem Gerüst fixiert. Dieses Hydrogel hat ähnliche Eigenschaften wie Knorpelgewebe. „Das ist ein großer Vorteil, denn die Zellen können unter Belastungsdruck nicht durch die Injektionsstelle entweichen. Und Bandscheiben stehen normalerweise immer unter Druck“, sagt Gaissmaier.

Bei Vorstudien und Versuchen mit Mäusen und Schafen, die vorgeschädigte Bandscheiben hatten, hat sich das neue Verfahren bisher bewährt: Die Anwendung verlief ohne Nebenwirkungen. Die Daten waren so vielversprechend, dass das Paul-Ehrlich-Institut genehmigt hat, die ersten beiden Stufen der klinischen Prüfung zu kombinieren. Während in der ersten Phase die Verträglichkeit des Arzneimittels zunächst an einer kleinen Patientengruppe überprüft wird, ist es Aufgabe der zweiten Phase, erste Daten zur Wirksamkeit des Arzneimittels im Vergleich zu einer Standardtherapie zu sammeln. Diese beiden Tests werden nun in einer gemeinsamen Studie an drei Zentren – der Universitätsklinik Innsbruck, der BG-Klinik in Halle und der BG-Unfallklinik Murnau – durchgeführt. Insgesamt werden 120 Patienten teilnehmen.

Dabei wird auch geprüft, ob die neue Therapie eine statistisch belastbare und klinisch relevante Verbesserung gegenüber der konventionellen Bandscheibenbehandlung bringt. Zusätzlich wird mittels Kernspintomografie untersucht, ob sich anatomisch-strukturelle Verbesserungen ergeben. „Die gesammelten Parameter ergeben ein genaues Bild über den Heilungsprozess in der Bandscheibe selbst“, sagt Felix Michnacs, der Leiter der Klinischen Entwicklung bei Tetec. Auch die Frage, ob sich die Lebensqualität der Patienten durch die Therapie verbessert, wird eine Rolle spielen. Diese Fragen werden in einer fünf Jahre dauernden Nachbeobachtungszeit geklärt, um anschließend mit diesen Daten eine Zulassung des Arzneimittels bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zu beantragen.

Parallel zur klinischen Studie läuft die Forschung weiter

Die kombinierte Studie wird von einem Forschungsprojekt begleitet, in dem die Eigenschaften der angezüchteten Zellen noch genauer untersucht werden sollen. Dadurch ist es möglich, Rückschlüsse auf ihre Qualität zu ziehen. Die Mediziner werden vor und nach der Transplantation Blut und Urin der Patienten untersuchen und auf sogenannte Marker achten: Das sind Substanzen, die mit der Zellqualität oder dem Therapieerfolg zusammenhängen. „Wenn es uns gelingt, Marker zu identifizieren, können wir unter anderem sagen, wer von der Therapie profitieren wird und wer nicht“, sagt Karin Benz, Projektleiterin am NMI. Und sie fügt hinzu: „Dadurch wird es auch möglich, neue Methoden zu entwickeln, mit denen sich die Zellqualität noch weiter verbessern lässt.“

Langfristig sollen auch Patienten profitieren, die zwar eine degenerierte Bandscheibe, aber noch keinen Bandscheibenvorfall haben – und auch keinen bekommen sollen. Doch bei diesen Patienten ist kein entsprechendes Gewebe zur Zellisolierung verfügbar. Woher sollen die Zellen dann kommen? „Für diese Fälle erforschen NMI und Tetec gemeinsam, ob sich Stammzellen, etwa aus dem Knochenmark, eignen“, sagt Karin Benz. Auch die könnten vermehrt und in die zu regenerierende Bandscheibe injiziert werden. „Die Stammzellen könnten sich dann im Hydrogel zu Bandscheibenzellen weiterentwickeln“, sagt die Reutlinger NMI-Forscherin.

Allerdings gibt es noch einige Fragen zu beantworten, bevor man dies tun kann. Das wird sicher noch ein einige Jahre dauern. Ganz so lange soll die Transplantation von Bandscheibenzellen im neuen Hydrogel nicht auf sich warten lassen. „In etwa zwei bis fünf Jahren ist die Therapie auf dem deutschen Markt verfügbar“, prognostiziert der Mediziner Gaissmaier.

Warum Bandscheiben zum Problem werden können

Degeneration
Bandscheiben bestehen aus einem gallertartigen Kern und einer sie umgebenden reißfesten Bindegewebsstruktur, dem sogenannten Faserring. Kern und Faserring können degenerieren – ein komplexer Prozess, der von mehreren Faktoren beeinflusst wird. Bereits ohne negative äußere Einflüsse verlieren Bandscheiben mit steigendem Lebensalter zunehmend die Fähigkeit, Wasser aufzunehmen, und sind dadurch weniger elastisch. Die Konzentration der Moleküle, die Wasser binden und wieder abgeben können, nimmt nämlich mit zunehmendem Alter ab. Kommen Entzündungen hinzu, die unterschiedliche Ursachen haben können, beschleunigt sich dieser Vorgang. Auch Bewegungsmangel kann dazu beitragen, dass die Bandscheiben degenerieren.

Verknöcherung
Bei der überwiegenden Zahl der Patienten geht die Degeneration vom Gallertkern aus. Er trocknet aus, und die Bandscheibe verliert an Höhe. Dadurch entstehen Kräfte, die die Bandscheibe zusätzlich belasten. Nerven und Blutgefäße wachsen in die Bandscheibe ein, und es bildet sich Narbengewebe mit Verknöcherungen.

Vorfall
Außerdem werden die Bandscheibenzellen schlechter mit Nährstoffen versorgt, weil zunehmend das Wasser fehlt, das die Nährstoffe in die Zellen transportiert. Wenn die Zellen sterben, beschleunigt das die Degeneration weiter. Schließlich kann der Faserring einreißen und der Gallertkern aus der Bandscheibe hervortreten. Bei solchen Vorfällen quetscht sich der Gallertkern oft in den Wirbelkanal hinein und drückt auf die Nerven.