Die Africa Mercy ist das größte private Hospitalschiff der Welt. Sie liegt jetzt vor Madagaskar. Die Balinger Ärztin Annette Frick hat auf dem Schiff gearbeitet – und viel gelernt bei der Hilfe für die Ärmsten der Armen.

Balingen - Annette Frick legt das blau eingebundene Fotobuch behutsam auf den Tisch. Wie einen kleinen Schatz. „Ich war gerne in Afrika“, sagt sie. Sie schlägt das Buch auf. Keine Fotos von wilden Tieren, keine Bilder von atemraubenden Wüstenlandschaften, keine Aufnahmen von Sonnenuntergängen in der Serengeti. Was Annette Frick fotografiert hat, sind Menschen. Kranke Menschen, missgebildete Menschen, Erwachsene und Kinder, die von übergroßen Tumoren entstellt sind, die eingetrübte Augäpfel haben und unter großen Mund- und Gaumenspalten leiden. Urlaubsfotos sehen anders aus.

 

Annette Frick im Einsatz Foto: Mercy Ships
„Auch ich musste mich daran gewöhnen“, sagt die 43-Jährige, „so etwas sieht man in westlichen Ländern nicht.“ Die Anästhesistin hat viel gelernt und gesehen während ihrer Ausbildung zur Ärztin. Die gebürtige Balingerin war schon an vielen Kliniken – auch in Nagold und Stuttgart. Und doch war vieles neu für sie, als sie vor zehn Jahren zum ersten Mal auf der Africa Mercy, dem weltweit größten privaten Hospitalschiff, einen freiwilligen Dienst machte. Die schwimmende Klinik wird getragen von der christlich orientierten internationalen Hilfsorganisation Mercy Ships, die 1978 gegründet wurde. Seitdem war Annette Frick mehrfach auf der Africa Mercy – einmal ein halbes Jahr, oft mehrere Monate, dann wieder nur ein paar Wochen. Das blaue Fotobuch zeigt sie, wenn sie gefragt wird, was sie dort macht – und wenn sie Spenden für das Projekt sammelt. Warum macht sie es? „Ich habe schon als Kind davon geträumt, als Ärztin in der Dritten Welt zu arbeiten. Und ich will zeigen, dass Gott alle Menschen liebt.“

Mittlerweile bieten viele Organisationen Hilfseinsätze für Ärzte an. Auch Annette Frick war mit anderen Hilfsvereinen wie Humedica unterwegs, etwa auf Haiti nach dem Erdbeben Anfang 2010. Die Operationen fanden unter freiem Himmel statt, sie selbst lebte in dem zerstörten Land unter einfachsten Bedingungen. Auf der Africa Mercy ist das anders. „Wir leisten mit modernen Geräten gute und hochqualifizierte Arbeit“, sagt Annette Frick, „aber wir sind auch in einer sicheren Umgebung und haben eine gute Ausstattung.“

Das Schiff ist vollgestopft mit moderner Medizintechnik

Das Konzept von Mercy Ships unterscheidet sich in diesen Punkten von dem anderer Hilfsorganisationen, die notgedrungen direkt vor Ort arbeiten und oft mit schwierigen Bedingungen und einer unsicheren Lage konfrontiert sind. Das Hospitalschiff dagegen ist voll gestopft mit moderner Technik, die spezialchirurgische Eingriffe ermöglicht: Es gibt sogar einen Computertomografen. Fünf Operationssäle mit Intensiv- und Aufwachstation und gut 80 Krankenbetten sind eingerichtet. Mercy Ships unterstützt am Einsatzort auch zahlreiche Bau- und Landwirtschaftsprojekte, bietet Schulungen für einheimische Ärzte und Krankenschwestern an. In erster Linie gehe es aber um „die Hilfe in Einzelfällen“, sagt Annette Frick. Ihren Patienten könnte sonst nicht geholfen werden – sei es, weil sie, vor allem aus finanziellen Gründen, keinen Zugang zu hochwertiger medizinischer Versorgung haben oder weil diese erst gar nicht vorhanden ist.

„Wir machen auf dem Schiff das, was vor Ort in den Kliniken nicht gemacht werden kann“, sagt Udo Kronester, der Geschäftsführer von Mercy Ships Deutschland, einem von 16 Landesverbänden weltweit. Kronester hat mehrere Jahre mit seiner Familie auf der Africa Mercy gelebt. Rund 1200 Freiwillige, vor allem Mediziner und Techniker, aus 35 Ländern machen jedes Jahr Dienst auf dem Schiff, das knapp 600 Helfer und Gäste aufnehmen kann. „Wir bieten den Patienten auf dem Schiff Sicherheit“, sagt Kronester, „und wir belasten dadurch das Gastgeberland nicht.“ Mercy Ships schickt das schwimmende Hospital nur in Länder, die darum bitten. „Wir machen keine Katastrophenhilfe“, sagt Kronester. Auch alle Krisenregionen sind tabu – um die Helfer zu schützen.

So sagte Mercy Ships in diesem Winter einen Einsatz in den westafrikanischen Ländern Guinea und Benin wegen der Ebola-Epidemie ab und beorderte das Schiff nach Madagaskar. Ende Oktober kam es in der Hafenstadt Tamatave auf der Insel vor Ostafrika an, begrüßt vom Präsidenten Hery Rajaonarimampianina und dem Premierminister Roger Kolo. Dort liegt es jetzt bis zum Sommer, dann wird das Schiff im südafrikanischen Durban überholt, ehe es im Herbst wieder nach Madagaskar fährt.

Die Politik spielt keine Rolle

Der enge Kontakt zur jeweiligen Regierung, und sei sie politisch auch noch so umstritten, ist für Mercy Ships besonders wichtig. Denn dadurch sei die Sicherheit der Freiwilligen eher gewährleistet – und man könne auf die Unterstützung der Behörden vor Ort bauen. Außerdem erleichtere es die Einreise- und Zollformalitäten, was bei einem Schiff dieser Größenordnung und mehr als tausend Menschen, die dort während eines Jahres Dienst tun, keine Kleinigkeit sei, sagt Martin Dürrstein, der Vorsitzende von Mercy Ships Deutschland. „Wir gehen in kein Land, in dem wir nicht willkommen sind.“

Dürrstein ist zugleich der Vorstandsvorsitzende von Dürr Dental, einem weltweit operierenden Medizingerätehersteller aus Bietigheim-Bissingen, der die Organisation mit Gerätespenden unterstützt und es schon einem Dutzend Mitarbeiter ermöglicht hat, auf dem Schiff zu helfen. „Ich war selbst fünf Tage auf der Africa Mercy“, sagt Martin Dürrstein, „das ist ein nachhaltiger Eindruck – und ich weiß seitdem, dass die Hilfe wirklich Hand und Fuß hat.“ Oder in der Sprache eines schwäbischen Firmenchefs: „Da kommt hinten was raus.“

Auf Madagaskar beginnt im Herbst 2014 der medizinische Einsatz mit umfangreichen Voruntersuchungen. Informiert über Krankenstationen in Städten und auf dem Land, kommen potenzielle Patienten, die dann genauer angesehen werden. In Tamatave strömen 2000 Menschen zum ersten Termin, sie stehen in langen Warteschlagen um die Häuserblocks, 163 erhalten Patientenkarten für eine Behandlung an Bord. Diese Prozedur wiederholt sich in den nächsten Monaten noch mehrfach.

„Das ist hart, aber notwendig“, sagt Annette Frick. Es sei nur sinnvoll, Menschen zu behandeln, die innerhalb der Zeit, in der das Schiff vor Ort sei, gesund werden könnten. Krebspatienten, die einer langjährigen Nachsorge bedürften, würden beispielsweise nicht aufgenommen. Dann klappt die Ärztin ihr Fotobuch auf und erzählt von ihrem letzten Einsatz in Westafrika.

Das Mädchen mit dem Tumor im Gesicht

Sie zeigt das Bild von Sahena, die einen fast fußballgroßen Tumor im Gesicht hat, der Augen, Nase, Mund zu überwuchern droht. Die junge Frau lebte in ihrem Dorf im sozialen Abseits, weil derartige Entstellungen als Fluch gelten. „Diese Menschen werden wie Ausgestoßene behandelt“, sagt Annette Frick. „Schon wenn wir sie ansehen, berühren und untersuchen, ist das für sie ein Zeichen, dass sie angenommen werden, so wie sie sind.“ Nach mehreren Operationen zeugt heute nur noch eine Narbe von dem Tumor. „Für Sahena ist das die Chance auf ein neues Leben.“

Oder Francesca, ein junges Mädchen, dessen Kiefer versteift war und das kaum noch essen konnte. „Sie war dem Tod geweiht“, sagt Annette Frick. Dank einer speziellen Inkubationstechnik und sehr aufwendigen Eingriffen ist es gelungen, sie zu heilen. Einem jungen Mann, der am Grauen Star litt, erblindete und in seinem Heimatdorf als von Dämonen verflucht galt, gibt ein Routineeingriff die Sehkraft zurück. Annette Frick erzählt von jungen Frauen mit Blasen- und Scheidenfisteln so groß wie Kinderköpfe. Sie werden von der Gemeinschaft ausgestoßen. „Eine haben wir in einem Stall gefunden“, sagt sie.Und was bedeutet der Einsatz mit vielen Kollegen aus aller Herren Länder auf dem Schiff für die Ärztin selbst? „Fachlich ist das eine Zusammenarbeit nach standardisierten Verfahren“, meint Annette Frick, „von der Atmosphäre her ist es ein bisschen wie in einer Jugendherberge.“ Zum Tagesablauf gehören Andachten und Gebete, mitunter besucht sie einheimische christliche Gemeinden und ist begeistert, „mit wie viel Elan dort Gott gelebt wird“.

Vieles in unserer westlich geordneten Gesellschaft sieht Annette Frick inzwischen gelassener, und für vieles ist sie dankbar. „Es ist ein Glück, dass ich hier geboren wurde und aufgewachsen bin, meinen Traumberuf ergreifen konnte und immer genug habe.“ Der Verdienstausfall, den der Einsatz mit sich bringt, das geplünderte Sparkonto für die Flugkosten, die wechselnden Mietwohnungen – „das kann ich mir leisten“, sagt sie. Die Ärztin bringt aus Afrika nicht nur die Dankbarkeit der vielen Patienten mit, sondern auch die Gewissheit, dass „ich vielen Herausforderungen gewachsen bin, dass ich meine Grenzen kenne und Gottes Liebe weitergeben kann“. Das sei ihr mehr wert als touristische Attraktionen, sagt Annette Frick und klappt das blaue Fotobuch zu.