Forscher haben neue Ansatzpunkte, wie sie die Nervenerkrankung mit den vielen Gesichtern behandeln können. Besonders ein Gerinnungsfaktor wird dabei als vielversprechende Möglichkeit angesehen.

Stuttgart - Bei der Multiplen Sklerose, kurz MS genannt, gleicht kaum ein Krankheitsverlauf dem anderen. Dies macht die Unsicherheit für den Patienten so groß – und die Diagnose und Behandlung auch für den erfahrenen Arzt nicht leicht. Bei der Frage nach den Ursachen der MS gibt es ebenfalls keine einfache Antwort, wie Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen, betont: „Wir kennen bis jetzt noch keinen einzigen wirklichen Auslöser. Viele Aspekte spielen eine Rolle. Dazu gehören unter anderem. die genetische Ausstattung, die ein Mensch mitbringt, sowie Umweltfaktoren.“ Zusammen mit Kollegen der Uni Münster konnte sein Team kürzlich einen bisher unbekannten Zusammenhang zwischen dem Blutgerinnungssystem und dem Entstehen von MS nachweisen. Veröffentlicht sind die Ergebnisse im Fachblatt „Nature Communications“.

 

Die Suche nach möglichen Auslösern dieser komplexen Krankheit gleicht einer Geschichte, von der man zunächst nur das Ende kennt. Nach und nach versuchen die Forscher, die Abläufe vom Ende her aufzudecken, um sich so immer mehr dem Anfang zu nähern, von dem alles seinen Ausgang nimmt. Die Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung. Dies bedeutet, dass das Immunsystem fälschlicherweise körpereigene Strukturen bekämpft. „Bei der MS greift das Immunsystem den eigenen Körper an und zerstört bestimmte Bestandteile der Nervenhüllen in Gehirn und Rückenmark“, erklärt Kleinschnitz.

Freunde werden zu Feinden

Wie bei einem Elektrokabel, bei dem die Kunststoffummantelung den innen liegende Kupferdraht schützt und isoliert, werden die Nervenfasern im Gehirn und im Rückenmark durch eine äußere Hülle geschützt. Sind diese Nervenhüllen entzündet oder gar zerstört, können die Nervensignale nur langsamer oder überhaupt nicht mehr weitergeleitet werden.

Hauptakteure bei dem Krankheitsprozess sind die sogenannten T-Zellen des Immunsystems. Diese werden normalerweise bei ihrer Reifung auf schädliche Angreifer des Körpers programmiert, damit sie bei einem erneuten Auftreten die „Feinde“ sofort ausschalten können. Hin und wieder kann aber eine T-Zelle entstehen, die sich gegen Zellen des eigenen Körpers richtet. Dann kann es passieren, dass auch noch die „Endkontrolle“ versagt, die jede T-Zelle im Thymus – einem kleinen Organ hinter dem Brustbein – durchlaufen muss. In einem solchen Fall wird die veränderte Immunzelle in die Blutbahn entlassen.

Nervenfasen werden angegriffen

Im Gehirn kann es ihr entgegen aller Regeln gelingen, aus dem Blutgefäß heraus in das Gewebe zu schlüpfen. Hier greift sie die Umhüllung eines Nervs an, wobei sie Botenstoffe aussendet, die weitere Bestandteile des Immunsystems zur Unterstützung herbeirufen. Außerdem teilt sich die T-Zelle und kann so ihr zerstörerisches Werk an anderen Nerven in Gehirn und Rückenmark fortsetzen.

Soweit sind die Abläufe bekannt, doch warum passiert das alles? An den Antworten zu diesen Fragen arbeiten viele Arbeitsgruppen. Jetzt hat das Team um Christoph Kleinschnitz einen Mitverantwortlichen für das Krankheitsgeschehen identifiziert. Die Forscher fanden im Blut und im Nervenwasser von MS-Patienten größere Mengen eines ganz bestimmten Blutgerinnungsfaktors, ein Protein namens FXII. Den kannten die Neurologen schon von ihren Untersuchungen bei Schlaganfallpatienten: „FXII ist entzündungsfördernd. Nach einem Schlaganfall stößt er die nachfolgenden Entzündungsreaktionen im Gehirn an“, so Kleinschnitz.

Blutgerinnungsfaktor beeinflusst Entzündungen

Dass ein Blutgerinnungsfaktor – und zudem einer, dessen Funktion lange Zeit unklar war – etwas mit Entzündungen zu tun hat, verblüfft nur auf den ersten Blick. Sowohl Blutgerinnung als auch Entzündung seien Abwehrsysteme des Körpers, die verletztes oder infektiöses Gewebe ausschalten, fasst Thomas Renné, Direktor des Instituts für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin der Uniklinik Hamburg-Eppendorf, zusammen. Eine Kooperation der beiden Systeme läge daher nahe.

Bei Mäusen mit einer der MS ähnliche Krankheit konnte die Forschergruppe um Christoph Kleinschnitz zudem zeigen, welche Auswirkungen eine Blockade von FXII hat. Sie benutzten dazu einen Wirkstoff, der ursprünglich aus einer Blut saugenden Raubwanze gewonnen wurde. Beim Einsatz dieses Mittels fanden sie im Gehirn der Mäuse weniger Entzündungszellen. Zudem schütteten die angreifenden Immunzellen weniger Botenstoffe aus, was die Krankheitssymptome linderte. Wurde FXII vor dem Ausbruch der Erkrankung blockiert, waren die Tiere sogar gänzlich geschützt.

Hoffnung auf neuartige Therapie

Dieses Ergebnis könnte sich in zukünftigen, neuartigen Therapien für MS-Patienten niederschlagen. Die Wissenschaftler hoffen, dass sich das Mausmodell auch auf den Menschen übertragen lässt. Ein positiver Aspekt ist zudem, dass ein Fehlen des Blutgerinnungsfaktors FXII im Gegensatz zu anderen Gerinnungsfaktoren keine erhöhte Blutungsneigung auslöst.

Der bei den Mäusen eingesetzte Wirkstoff aus der Raubwanze ist zum Einsatz beim Menschen allerdings nicht geeignet, da er als körperfremdes Eiweiß selber das Immunsystem auf den Plan rufen würde. Gleichwohl haben die Mediziner neue Hoffnung. „Wir kennen mit FXII einen Angriffspunkt, der vielversprechend ist“, betont Christoph Kleinschnitz. „Nun ist es Aufgabe der Pharmafirmen, einen maßgeschneiderten Hemmstoff zu entwickeln.“

Vielfältige Therapieoptionen

Krankheit
In Deutschland leiden derzeit schätzungsweise rund 200 000 Menschen unter Multipler Sklerose (MS). MS beginnt oft im jungen Erwachsenenalter, wobei Frauen deutlich in der Überzahl sind. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung: Die Immunzellen greifen die Umhüllungen der Nervenfasern im Zentralnervensystem an und zerstören sie. Die unterschiedlichen Symptome wie zum Beispiel Sehstörungen, Empfindungsstörungen oder Lähmungen erklären sich durch die verschiedenen möglichen Angriffsorte im Gehirn und Rückenmark. Es gibt nicht nur körperliche Auswirkungen, sondern auch kognitive Störungen, das heißt die Fähigkeit zu Denk- und Erkenntnisprozessen kann ebenfalls beeinträchtigt sein. Die Krankheit verläuft in Schüben, zwischen denen es unterschiedlich lange Phasen ohne akute Symptome gibt.

Behandlung
MS lässt sich immer besser therapieren. Richtig schlimme Verläufe sind selten geworden. Experten zufolge haben sich die Behandlungsmöglichkeiten seit den 1990er Jahren sehr positiv entwickelt“. Die vielfältigen Therapieoptionen haben dazu geführt, dass ein Großteil der Betroffenen auf ihrem jeweiligen Krankheitsniveau stabilisiert werden kann. So gibt es beispielsweise Antikörper, die Immunzellen blockieren oder andere, die verhindern, dass Immunzellen in das Gehirn gelangen. Auch Substanzen, welche die Nervenzellen direkt schützen sollen, gehören zu den Behandlungsmöglichkeiten der Neurologen.

Zukunft
Gerade bei den neuartigen Therapien können heftige Nebenwirkungen auftreten. Für die Zukunft hoffen die Forscher daher, Medikamente zu entwickeln, die das Gehirn anspornen, sich selbst zu reparieren. Das Potenzial dazu hätte das Gehirn.