Die Infektionskrankheit sollte eigentlich ausgerottet werden. Doch nun gibt es immer mehr Fälle – in Berlin sind in den vergangenen Wochen mehr als 400 Menschen erkrankt. Besonders gefährdet sind Erwachsene, selbst wenn sie einmal gegen die Masern geimpft sind. Nur zwei Impfungen schützen sicher.

Stuttgart - In Deutschland breiten sich die Masern wieder aus – und das, obwohl Mediziner hofften, sie bald gänzlich ausgerottet zu haben. Aber während Ärzte und Politiker in großer Sorge sind, scheint die Bevölkerung nach wie vor ein verharmlosendes Bild von dieser Krankheit zu haben. Ein bisschen Fieber, ein paar rote Flecken – wer Betroffene fragt, wie sie die Masern als Kind erlebt haben, bekommt meistens eine Beschreibung wie diese. Aber die Realität sieht anders aus. Bei der letzten Masernwelle im Sommer 2013 starb in Nordrhein-Westfalen ein junger Mann an einer Gehirnhaut-Entzündung, einer Spätfolge seiner sehr frühen Masernerkrankung. 40 Prozent der erkrankten Erwachsenen müssen in die Klinik. Nach den Statistiken des Robert-Koch-Instituts (RKI) sterben zwei von 1000 Patienten an den Folgen einer Maserninfektion. „Masern sind keine harmlose Kinderkrankheit“, wird Susanne Glasmacher vom RKI nicht müde zu sagen.

 

Das Problem an der aktuellen Erkrankungswelle ist, dass mehrheitlich Erwachsene davon betroffen sind. Das ist eine tragische Folge der Gegenstrategie: Als die Impfung 1970 in der DDR und 1974 in der BRD eingeführt wurde, stiegen die Impfzahlen, wie bei neuen Impfungen üblich, anfänglich nur langsam an. Dennoch sank die Erkrankungsrate stetig. Während vorher so gut wie jeder die Masern selbst durchmachte, weil die Krankheit enorm ansteckend ist, sind gerade wegen der Impfung viele der nach 1970 Geborenen nicht immun, da sie nicht mehr die „Chance“ einer Ansteckung bekamen. Wer aber als Erwachsener ohne Impfschutz durchs Leben geht, lebt gefährlich. Mit der Impfung wurde aus der einstigen Kinderkrankheit eine Krankheit, die insbesondere für Erwachsene bedrohlich ist.

Erst die zweite Impfung schützt zuverlässig

15 Prozent der betroffenen Erwachsenen hatten sogar eine Impfung. Allerdings schützen erst zwei Impfungen zuverlässig – was man in den siebziger Jahren noch nicht wusste. Erst seit 2001 empfiehlt die Ständige Impfkommission die zweite Impfung bereits im zweiten Lebensjahr. „Nur in diesem Alter erreicht man die Kinder noch“, so Glasmacher. Denn später gehen Kinder kaum noch zum Arzt – außer sie sind chronisch krank. Kleinkinder hingegen erreicht man gut über die Kinder-Vorsorge-Untersuchungen.

Dennoch scheint die Aufklärung der Kinderärzte nicht auszureichen. Bei der Schuleingangsuntersuchung – momentan der einzige Zeitpunkt, zu dem ein Jahrgang komplett ärztlich untersucht wird – haben derzeit nur 92 Prozent die geforderten beiden Impfungen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO will die Masern ausrotten.Um dies zu erreichen, müsste die Gesamtbevölkerung eine Rate von 95 Prozent aufweisen. „Wir wissen alle, welche Leute ihre Kinder nicht impfen lassen“, schimpft ein Apotheker aus Bayern, der nicht namentlich genannt werden will. Er spielt auf die gehäuften Fälle im Umfeld von Waldorfschulen an. Gerade in Baden-Württemberg, wo viele Anthroposophen leben, ist die Impfquote bundesweit mit am niedrigsten: knapp 89 Prozent der Schulkinder können hier die zweite Impfung aufweisen, der zweitschlechteste Wert nach Sachsen.

Auch viele homöopathische Ärzte raten zur Impfung

Dabei raten inzwischen selbst viele homöopathische Ärzte zu einer Impfung. „Man kann die Krankheit der Gesellschaft nicht zumuten“, sagt Martin Hirte, homöopathischer Kinderarzt aus München. Er weiß um die anthroposophische Ideologie, nach der gerade das Fieber bei Masern wichtig für die Persönlichkeitsbildung ist. „Kinder selbst haben auch selten Komplikationen“, sagt er. Aber inzwischen sei die Impfung eine ethische Frage, um andere wie Säuglinge oder chronisch Kranke zu schützen, die nicht geimpft werden können. „Es gibt einfach eine relevante Sterblichkeit bei Erwachsenen.“

Das größte Problem sind aber nicht die Kleinkinder. „Die Impfquote steigt seit Jahren“, sagt Susanne Glasmacher, „damit sind wir eigentlich ganz zufrieden.“ Das aktuelle Problem ist eine andere Zielgruppe: „Wir müssen dringend die jungen Erwachsenen erreichen“, sagt Marita Völker-Albert von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Wie schlecht es um dieses Ziel steht, zeigt eine BZgA-Umfrage aus dem Jahr 2012: Seit 2010 gibt es von der Ständigen Impfkommission die Empfehlung, nach der sich alle nach 1970 Geborenen erneut gegen Masern impfen lassen sollten – sofern sie nicht nachweislich bereits beide Impfungen hatten. Aber 81 Prozent der Betroffenen wissen nichts von dieser Empfehlung. Gerade junge Erwachsene gaben zudem häufig an, nicht einmal zu wissen, wo ihr Impfpass ist. Die Gruppe der 21- bis 29-Jährigen ist zudem die impfkritischste Gruppe in der Bevölkerung: Nur etwas über 50 Prozent bezeichneten sich als „befürwortend“ oder „eher befürwortend“. Und nur 13 Prozent der Befragten, die nicht über einen ausreichenden Masernschutz verfügen, wollen sich in den nächsten zwölf Monaten impfen lassen. 24 Prozent hingegen sind der Meinung, dass Masern „keine besonders schwere Krankheit sind“.

Ruf nach einer Impfpflicht

Aber die Aufklärung schlägt nur schleppend in der Bevölkerung an. Immer wieder wurden deshalb Rufe nach einer Impfpflicht laut. Die ist juristisch in Deutschland allerdings schwer durchsetzbar. Schließlich stellt jeder medizinische Eingriff ohne Zustimmung des Betroffenen eine Körperverletzung dar. Der Staat hat zwar im Infektionsschutzgesetz die rechtliche Grundlage verankert, bei sehr gefährlichen Erkrankungen eine Pflicht durchzusetzen, davon hat er bisher aber nur einmal Gebrauch gemacht: Bis 1976 gab es eine Impfpflicht gegen Pocken. Daran starb allerdings jeder vierte Erkrankte. Bei einer Todesrate von 25 Prozent ist eine Impfpflicht kaum umstritten. An den Masern hingegen sterben 0,1 Prozent – was kaum ausreichen wird, eine Impfpflicht politisch durchzusetzen.

Daher hofft man beim RKI auf die Einsicht der Menschen. Letztlich sei die Motivation, Leid zu verhindern, die überzeugendere Antriebsfeder als abstrakte gesundheitspolitische Ziele, sagt Susanne Glasmacher. Daher sei Aufklärung die wichtigste Maßnahme. Die neuen Fälle in Berlin – hier sind in den vergangenen Wochen mehr als 400 Menschen erkrankt – könnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Impfquote um die entscheidenden Prozentpunkte zu erhöhen.

Eine falsche Impfstudie verbreitet Angst

Studie
Die Impfzahlen gingen stark zurück, als ein Forscherteam um den britischen Arzt Andrew Wakefield 1998 im Fachblatt „The Lancet“ behauptete, dass die Kombinationsimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln Autismus auslösen könnte. Schnell wurde klar, dass die Studie unseriös war. Die Fallzahlen waren viel zu gering, die Ergebnisse konnten in Folgestudien nicht bestätigt werden. Journalisten fanden heraus, dass der Arzt unter anderem von einer Anwaltskanzlei bezahlt worden war, die Eltern bei Klagen gegen Impfhersteller vertrat.

Widerlegung
In den folgenden Jahren gab es zahlreiche umfassende Untersuchungen – unter anderem in Kalifornien und Großbritannien – mit mehr als 1000 Probanden. Das Ergebnis war stets gleich: Ein Zusammenhang zwischen Impfung und Autismus konnte nicht nachgewiesen werden. Im Jahr 2010 wurde die „Lancet“-Studie dann auch offiziell zurückgezogen.