Patienten mit seltenen und ungewöhnlichen Erkrankungen haben oft eine lange Odyssee von einem Arzt zum nächsten hinter sich. An speziellen Zentren soll den Patienten schneller geholfen werden.

Stuttgart - Seit Jahrzehnten und immer häufiger wurde der österreichische Matheprofessor von Müdigkeit und Lähmungserscheinungen geplagt, die ihn schließlich jeden Abend in eine stundenlange Starre fallen ließen. Dabei bekam er alles mit und spürte auch alle Schmerzen. Abgesehen von dem Hinweis, die Beschwerden müssten wohl eine psychische Ursache haben, konnte ihm kein Arzt sein Leiden erklären – bis er im Internet auf das „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ (ZusE) stieß. Das Team um den, aus Karlsruhe stammenden, Internisten und Kardiologen Jürgen Schäfer an der Uni Marburg ist auf die Diagnose komplizierter Fälle spezialisiert.

 

Dort versucht man hartnäckig, die seltsamsten Krankheitsverläufe zu analysieren. Es erinnert nicht nur zufällig an die TV-Serie um die rätselhaften Fälle des zynischen Arztes und genialen Diagnostikers Dr. House. Seit Jahren verwendet Schäfer die exotischen Fälle des virtuellen Kollegen in einem Seminar, um seine Studenten für seltene Erkrankungen zu sensibilisieren. Von den Medien zum „deutschen Dr. House“ erklärt, wurde Schäfer plötzlich zur letzten Hoffnung für hunderte Kranke, die sich an ihn wandten, so dass die Uniklinik 2013 mit der Gründung des Zentrums darauf reagierte. Seit 2009 sind in Deutschland gut zwei Dutzend solcher Zentren gegründet worden, um die Experten und spezialisierten Ambulanzen an den Unikliniken besser zu vernetzen. Insgesamt vier Millionen Menschen sollen hierzulande an einer der etwa 7000 seltenen Erkrankungen leiden, von denen jeweils höchstens fünf von zehntausend Menschen betroffen sind. Bis solche Krankheiten, die ein Hausarzt vielleicht einmal im Jahr zu sehen bekommt, richtig diagnostiziert werden, vergehen oft Jahre – während die Patienten mitunter als Hypochonder gelten. „Unser Medizinsystem funktioniert zu 99,99 Prozent tadellos“, sagt Schäfer, „nur gibt es diese seltenen, ungewöhnlichen Fälle, die man relativ schwer diagnostizieren kann.“ Dazu kommt, dass es an vielen Unikliniken keine allgemeine medizinische Poliklinik mehr gibt. So landet der Patient bei einem Spezialisten nach dem anderen, der jeweils nur „sein“ Organ untersucht. „Am Ende stehen Sie vielleicht wieder beim Hausarzt und niemand hat was gefunden“, klagt Schäfer und fordert deshalb „Kümmererstationen“, Anlaufstellen an der Uniklinik, die einen Kranken umfassend im Blick behalten. „Das Patientengespräch ist – trotz aller Technik und Labormethoden, die wir natürlich auch nutzen – immer noch das Wichtigste“, sagt Schäfer, „manche Dinge kriegen Sie nur ‚raus, wenn Sie sich viel Zeit nehmen“. So konnte man schließlich auch dem Matheprofessor mitteilen, dass sein Leiden durch einen Gendefekt verursacht wird und ihm sogar helfen, die Symptome loszuwerden. Möglich wurde das auch dadurch, dass der Patient irgendwann erwähnte, dass seine Anfälle auch von der Art seiner Mahlzeiten abhingen. Diese scheinbare Nebeninformation, die in einem kurzen Gespräch nicht mitgeteilt worden wäre, rechtfertigte schließlich die immensen Kosten einer exakten, monatelangen Untersuchung des Vorgangs durch zwei Molekularbiologen. Ergebnis: der Kaliumwert musste gesenkt werden – mittels simpler Entwässerungstabletten.

Zentren stehen in Kontakt

Die neuen Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) koordinieren nicht nur die Spezialambulanzen innerhalb der eigenen Uni-Klinik, sondern sind auch miteinander vernetzt, damit Kranke schnell an die richtigen Experten vermittelt werden können. „Bei solchen Erkrankungen kommt es sehr darauf an, dass man das an einer Stelle bündelt, um so die größtmögliche Erfahrung zu nutzen“, sagt Jürgen Schäfer. Dabei spielen auch Datenbanken für seltene Erkrankungen wie www.orpha.net eine große Rolle. Digital verfügbare Informationen helfen bei der Identifizierung exotischerer Syndrome. Auch für die Erforschung von Krankheiten, an denen europa- und weltweit nur sehr wenige Menschen leiden, ist es wichtig, dass die behandelnden Ärzte mit der Zustimmung des Patienten jeden Fall anonymisiert genau dokumentieren und den Kollegen zur Verfügung stellen. Heilbar sind die meisten seltenen Erkrankungen noch nicht, auch weil die Entwicklung von Medikamenten für sehr kleine Gruppen von Patienten den Pharmaherstellern oft unrentabel erscheint – trotz Sonderkonditionen bei der Zulassung und Vermarktung von „Orphan Drugs“, wie die Arzneimittel für seltene, „verwaiste“ Krankheiten heißen. Dabei gibt es einige Beispiele dafür, dass die Bekämpfung exotischer Leiden auch zur Entwicklung von Standardmedikamenten beitragen kann. So geht die Entdeckung der negativen Rolle des LDL-Cholesterols bei Herzerkrankungen – und die Entwicklung blutfettsenkender Medikamente – auf die Erforschung einer seltenen, genetisch bedingten Fettstoffwechselstörung zurück.

Am Geld fehlt es auch bei den Zentren selbst, die momentan von den Unikliniken, teils direkt, teils über Stiftungen und Spenden, getragen werden müssen. Insbesondere die Kosten aufwendiger Spezialdiagnostik stehen in keinem Verhältnis zu den Pauschalen, die derzeit von Uni-Ambulanzen abgerechnet werden können. Das Tübinger Zentrum setzt sich deshalb gerade mit einer Online-Petition für die Aufnahme der ZSE in den Landeskrankenhausplan ein. Die Mitfinanzierung durch die Krankenkassen ist auch eines der Ziele im Aktionsplan des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE). Darin ist auch vorgesehen, dass zumindest übergeordnete „Referenzzentren“ auch für nicht diagnostizierte Erkrankungen insgesamt zuständig sein sollen. Auch nicht-seltene Krankheiten verlaufen manchmal so untypisch oder kompliziert, dass sie lange nicht erkannt werden. Einige Zentren wie das Marburger ZusE bieten Patienten deshalb an, ihre Krankenunterlagen noch einmal zu überprüfen. Dazu gehört immer auch das Ausfüllen eines Fragebogens. Denn oft ist es nur eine einzige, noch nicht gestellte Frage – Haustiere im Umfeld? Reisen außerhalb Europas? Besondere Hobbys? – die zur Ursache der Symptome führt.