Die steigenden Versicherungsprämien in der Geburtshilfe machen den Hebammen, aber auch Ärzten und Krankenhäusern zu schaffen. Ein Schadensfall kann in die Millionen gehen. Fachleute erwarten eine Zentralisierung zu Lasten kleiner Kliniken.

Stuttgart - Keine aufregenden Geburten in dieser Woche: Professor Ulrich Karck, Ärztlicher Direktor der Frauenklinik in Stuttgart, lehnt sich zurück. Von Entspannung im Dienst kann bei ihm aber nie die Rede sein. „Es kann immer etwas passieren“, sagt Karck – bei jeder der 2600 Geburten, welche die Frauenklinik im Jahr hat. Bei all dem Glück, die das Ende einer Schwangerschaft mit sich bringt: eine natürliche Entbindung ist ein aufregender Vorgang, wenig planbar. Bei einer Wehe wirkten so starke Kräfte, dass die Durchblutung des Mutterkuchens unterbrochen werde,  so Karck. „Da kommt kein Sauerstoff in die Plazenta, de facto hält das Kind die Luft an.“ Und das alle drei bis fünf Minuten für 30 bis 50 Sekunden – oft über Stunden. Die Natur habe dafür gesorgt, dass die Kinder das aushalten, sagt der Professor. Wie sie es aushalten, können die Geburtshelfer nur unzureichend ermitteln. Sie können die Herzfrequenz messen, aber nicht direkt die Sauerstoffversorgung des Kindes.

 

Kaiserschnitt, ja oder nein? Die Ärzte müssen rasch entscheiden. Sie fürchten die Atemnot des Kindes – die perinatale Sauerstoffunterversorgung. Sie kann zu Hirnschädigungen führen, mitunter zu schweren, die das Kind an den Rollstuhl fesseln oder zum Pflegefall machen. Ganz so selten ist die Schädigung nicht: „Sie kommt bei zwei von 10 000 Geburten vor – selbst in gut geführten Kliniken“, sagt Karck. „Würden Sie bei so einem Absturzrisiko in ein Flugzeug steigen?“ Je mehr er mit Schwangeren darüber spreche, desto mehr entschieden sich „für eine kontrollierte Situation“, sprich den Kaiserschnitt. An der Frauenklinik sind es 42 Prozent.

Ein Albtraum für Eltern, Ärzte und Pfleger

Schadensfälle bei einer Geburt sind tragische Schicksale, ein Albtraum für Eltern, Ärzte und Pfleger. Aber wie sie neuerdings juristisch aufgearbeitet werden, scheint das System der Geburtshilfe auszuhöhlen. Wird bei der Entbindung ein Fehler nachgewiesen, werden Millionensummen erstritten. Die Haftpflichtversicherungsprämien in der Geburtshilfe haben sich in wenigen Jahren verdoppelt, für 2015 erwartet die Branche erneut einen Anstieg um 40 Prozent. Wenn Belegärzte an Geburtskliniken Beträge von 20 000 bis 40 000 Euro für die Haftplicht zahlen, ist ihre Existenz gefährdet.

Wegen der „neuen Spruchpraxis“ der Gerichte lägen die Summen für Schadenersatz, Behandlungs- und Pflegekosten um das 20-Fache höher als in den 90er Jahren, hat Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery auf dem Ärztetag beklagt. Es drohten amerikanische Verhältnisse, wenn die Anwälte den Kreißsaal erobern. Montgomery fordert für Geburtsschäden eine Staatshaftung ähnlich wie bei Impfschäden einzuführen – zum Wohl der Allgemeinheit. Auch solle ein Risikofonds für schwere Schäden gegründet werden und Krankenkassen sollten ihre Regressforderungen drosseln: Diese machten bis zu 40 Prozent der Schadensumme aus. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) wies die Wünsche der Ärzte zurück: Man wolle sich auf das Problem der Hebammen konzentrieren, ihre Lage sei von der bei Kliniken und Ärzten „deutlich zu unterscheiden“, man behalte die Entwicklung aber im Blick.

Schadenersatz für Persönlichkeitszerstörung

Professor Karck war selbst schon als Gutachter in einem Prozess gehört worden und weiß, was Anwälte durchfechten. Es ging um die Hirnschädigung eines Neugeborenen, wobei nachgewiesen wurde, dass die Zeit zwischen der Entscheidung für den Kaiserschnitt und der Entbindung drei Minuten zu lange gedauert habe. Die Leitlinie sieht 20 Minuten vor, es verstrichen 23 Minuten. Nun werde der Schadensersatz für die Persönlichkeitszerstörung des Kindes – es liegt im Wachkoma – mit 600 000 Euro angesetzt, hinzu komme der lebenslange Pflegeaufwand und der Verdienstausfall: „Es wird eingerechnet, was das Kind bei normaler Entwicklung in einem Beruf hätte verdienen können.“ Da kämen Summen von bis zu vier Millionen Euro hinzu. Der Prozess läuft seit Jahren. Der Vorfall passierte an einer großen Klinik („ein Kommunikationsfehler“). Dennoch glaubt Karck, dass gerade kleine Geburtskliniken von den wachsenden Risiken bedroht sind. Fachgesellschaften sehen 500 Geburten jährlich als Grenze an.

Immer mehr kleine Kliniken schließen

Tatsächlich schließen immer mehr kleine Kliniken auf dem Land ihre Kreißsäle. In Baden-Württemberg sind von 2002 bis 2012 rund 900 Betten in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe abgebaut worden, heute sind es noch 4100. Geburtsabteilungen wie die in Kehl, Riedlingen, Geislingen und Bad Urach haben zugemacht. Die Haftpflicht ist nicht direkt schuld, aber sie ist eine Belastung. Eine Krankenhausgesellschaft in der Region Stuttgart mit 2500 Mitarbeitern teilt mit, dass ihre Versicherungspolice 2013 um zehn Prozent (60 000 Euro) gestiegen sei; das sei ein Problem.

Selbst Versicherer sind wegen der unkalkulierbaren Risiken unter Druck. Die Zurich-Versicherung zog sich 2012 aus dem Geschäft mit der Krankenhauspflichtversicherung zurück, plötzlich standen 200 Hospitäler ohne Versicherung da. „Würde ich mich heute niederlassen, würde ich keine Versicherung finden“, glaubt Professor Karck. Aber sein Arbeitgeber ist die Stadt Stuttgart, die eine Eigenversicherung hat und Schadensfälle selbst regelt: „Im Prinzip“, sagt Karck , „ist das eine Staatshaftung.“