In einigen Regionen Deutschlands werden besonders viele Antibiotika verschrieben oder künstliche Kniegelenke eingesetzt. Ärzte fragen sich, woran das liegt.

Stuttgart - Ihre Mandeln bekommen Kinder in manchen Regionen bis zu acht Mal häufiger entfernt als in anderen, Antibiotika erhalten sie im Nordosten Deutschlands doppelt so oft wie im Süden. Hyperaktive Jungen werden in Unterfranken öfter als behandlungswürdig eingestuft als andernorts. „Es gibt immer wieder Unterschiede, die erstaunen“, sagt Versorgungsforscher Gerd Glaeske von der Uni Bremen.

 

Die Bertelsmann Stiftung lässt für ihren „Faktencheck Gesundheit“ regelmäßig auffällige regionale Unterschiede analysieren. Für Mandeloperationen ergab sich zum Beispiel, dass im Stadtkreis Schweinfurt in Bayern 109 von 10 000 Kindern operiert wurden – fast acht Mal mehr als im Landkreis Sonneberg in Thüringen. „Im Einzelfall lassen sich solche Unterschiede oft noch nicht genau erklären“, sagt Glaeske. „Es gibt vermutete Faktoren, aber kaum Beweise.“ Bekannt sei zum Beispiel, dass Allgemeinärzte Antibiotika im Schnitt häufiger ohne Bedarf – etwa bei einem Virusinfekt – verordnen als Kinderärzte.

Bei nicht-eitrigen Mittelohrentzündungen, bei denen Antibiotika laut Leitlinien nur in Ausnahmefällen sinnvoll sind, verordneten demnach 33 Prozent der Hausärzte Antibiotika, 17 Prozent der Kindermediziner – und nur 9 Prozent der HNO-Ärzte. In ländlichen Regionen, in der vor allem der Hausarzt aufgesucht werde, würden deshalb eher mehr Antibiotika genommen, erklärt Glaeske. Die unterschiedliche Einschätzung von Ärzten wird auch bei Mandeloperationen als eine Hauptursache angenommen. Der Bertelsmann-Untersuchung zufolge spielt zudem die Zahl der HNO-Kliniken in der Region eine Rolle: Kinder aus Kreisen mit mehreren großen Einrichtungen wurden häufiger operiert.

In manchen Gegenden wollen viele Eltern nicht impfen

Groß ist der Einfluss der Ärzte auch bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). „Da gab es in den vergangenen Jahrzehnten bundesweit eine rasante Zunahme der Diagnosen und Arzneiverordnungen. Besonders auffällig ist der Raum Würzburg“, erklärt Thomas Grobe vom Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (AQUA). Bundesweit wurde 2011 rund 6,5 Prozent der zehn- bis zwölfjährigen Jungen ein ADHS-Präparat wie Ritalin verordnet – in Unterfranken waren es mit 13,3 Prozent doppelt soviel.

Klar ist die Ursache dafür nicht – Hinweise gibt es aber. „Eine These ist, dass besonders engagierte Mediziner im Umfeld der Uniklinik Würzburg einen Anteil haben“, sagt Grobe. „Prominente Vertreter eines Faches mit bestimmten Ansichten und Forschungsaktivitäten können die Sensibilität für ein Thema in einer Region steigern.“ ADHS-Medikamente würden von Kinder- und Jugendpsychiatern verordnet. Die Zahl entsprechender Spezialisten sei überschaubar, relativ wenige könnten insofern die Arzneiverordnungen in einer Region maßgeblich beeinflussen.

In anderen Fällen sind die Eltern der entscheidende Faktor. Bekanntestes Beispiel sind Masernimpfungen, die Impfkritiker als riskant ansehen. Nach Daten des Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung erhalten Kleinkinder bis zwei Jahre in Zweibrücken (Rheinland-Pfalz) zu 95 Prozent die erste der beiden nötigen Impfungen. Schlusslichter der Liste sind die bayerischen Landkreise Rosenheim, Garmisch-Partenkirchen und Bad Tölz mit 61 bis 66 Prozent.

Mehr Kaiserschnitte in wohlhabenden Regionen

Bei den Erwachsenen seien regionale Unterschiede vor allem auf die Altersstruktur zurückzuführen, sagt Uwe Repschläger von der Barmer GEK. 8,7 Millionen Versicherte zähle die Kasse und biete trotz eines etwas höheren Frauenanteils eine gute Stichprobe vom Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. „Der Altersunterschied ist zum Beispiel der absolut vorrangige Erklärungsfaktor dafür, dass der Osten viel kränker ist als der Westen.“ Ursache sei die Abwanderung vieler junger Ostdeutscher in die alten Länder.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen zum Beispiel gebe es vermehrt in den neuen Ländern, erklärt Grobe. „Die innerdeutsche Grenze ist an den Bluthochdruck-Diagnosen ablesbar.“ Einer der wenigen Bereiche mit umgekehrter Ost-West-Verteilung seien psychische Erkrankungen, ergänzt Repschläger. Ursache sei vor allem das Angebot. „Es gibt viel, viel weniger Psychotherapeuten in den neuen Ländern.“

Bei den Kaiserschnitten liegen die Raten oft in wohlhabenden Regionen wie bestimmten Teilen Düsseldorfs höher. Auch im Ländervergleich sind die Unterschiede immens: Im Saarland wurden 2012 gut 37 Prozent der Frauen per Kaiserschnitt entbunden, in Sachsen waren es nur knapp 24 Prozent. Einen Zusammenhang mit der sozio-ökonomischen Lage fand die Bertelsmann-Analyse bei Kniegelenk-Operationen: In wohlhabenden Kreisen erhalten in der Regel mehr Menschen ein künstliches Kniegelenk.

Insgesamt kamen 2012 laut Statistischem Bundesamt 15,7 Millionen Mal Patienten in den gut 2000 deutschen Kliniken unters Messer – 300 000 Mal mehr als im Jahr zuvor, ein Rekordwert. Der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge wurden in Deutschland mit 240 Klinikaufenthalten je 1000 Einwohner pro Jahr so viele Menschen stationär behandelt wie in kaum einem anderen Industriestaat.

Die Wirbelsäule wird immer häufiger operiert

„Wir haben ein Höchstleistungssystem, in einigen Bereichen gibt es allerdings schon eine gewisse Unwucht“, sagt Fritz Uwe Niethard, Generalsekretär der Orthopädie-Gesellschaften DGOOC und DGOU. Ein Grund sei die Technikgläubigkeit. „In so manchem Fall, in dem eine OP anberaumt wird, wäre eine andere Behandlung zunächst angebrachter.“ Ein weiterer Punkt sei das Preisgefüge, wie das Beispiel der Wirbelsäulen-OPs zeige. „Ihre Zahl geht aktuell in dynamischer Bewegung nach oben, mit der wachsenden Zahl an Senioren alleine lässt sich das nicht erklären.“

Studien zeigten, dass viele Bandscheiben-OPs in Deutschland überflüssig sind. Für die konservative Behandlung von Wirbelsäulen-Problemen mit Krankengymnastik und Schmerzmitteln erhalte ein niedergelassener Arzt aber nur 120 Euro pro Patient – im Jahr. „Das wird alles andere als adäquat vergütet“, sagt Niethard. Für die Operation eines solchen chronischen Schmerzpatienten würden dagegen rund 12 000 Euro gezahlt.

Handlungsbedarf bestehe immer dann, wenn ein regionaler Unterschied medizinisch nicht zu erklären sei, sagt Repschläger von der Barmer GEK. Die Patienten über die Faktenlage aufzuklären, sei ein Baustein. „Es ist aber für die meisten Menschen nicht zu schaffen, mit dem Arzt auf Augenhöhe diskutieren zu können.“

Glaeske fände ein transparentes System wünschenswert, in dem jeder Arzt den Gesamtstatus des Patienten einsehen könnte. „Momentan nehmen 40 Prozent der Frauen über 65 Jahre neun Medikamente dauerhaft zugleich ein.“ Generell sei die ärztliche Beratung ein wichtiger Faktor, sagt Glaeske. „Dort, wo Zeit ist für ein Gespräch mit den Patienten, werden weniger Medikamente verschrieben.“